150 Jahre Notariatsordnung.

Die Notariatsordnung von 1871 ist die Basis für die Berufsausübung der österreichischen Notarinnen und Notare, der Notariatskandidatinnen und -kandidaten. Zum Anlass dieses 150-jährigen Bestehens wurden vielfältige Blickwinkel und Stimmen eingeholt, um über die Geschichte des Notariats in den letzten 150 Jahren (und davor) zu erzählen. Stimmen, die genauso vielfältig sind wie das Notariat selbst. Denn die Entstehungsgeschichte der Notariatsordnung und damit des Berufsstandes ist eine bewegte.

Als Folge der Revolution von 1848 kam es im Kaisertum Österreich mit Aufhebung der Grundherrschaft auch zum Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit. Ihre Funktionen in der Zivilgerichtsbarkeit wurden von staatlichen Gerichten übernommen, die außerstreitige (freiwillige) Rechtspflege sollte auf ein neues „Institut“, das Notariat, übertragen werden. Als der Justizminister im April 1850 beim Kaiser die Vorlage eines Entwurfs zu einem Notariatsgesetz für die dem Deutschen Bund zugehörigen Länder beantragte, schob er ein Motiv vor, mit dem er kaschieren wollte, dass es zur Einführung eines öffentlichen Notariats nach französischem Modell (wie es bis 1815 im gesamten napoleonischen Imperium in Geltung stand) kommen sollte: Er gab vor, dass es zur „Wiederherstellung“ des „gemeinrechtlichen“ Notariats kommen werde, das bis 1806 im Heiligen Römischen Reich bestanden hatte.

ETABLIERUNG DES KLERIKER-NOTARIATS
Oströmischen Ursprungs und in Oberitalien im Hochmittelalter zu einem neuen Institut, dem „Notariat“, umgeformt, war dieses im Spätmittelalter auch in Gebieten nördlich der Alpen rezipiert worden, wo es sich im Rechtsleben zunächst als „Kleriker-Notariat“ etablierte. An der Wende zur Neuzeit erfolgte – mit der Reichsnotariatsordnung (1512) – seine Umformung zu einer kaiserlichen Einrichtung auf römisch-gemeinrechtlicher Grundlage. Unter Joseph II. wurden die kaiserlichen Notare in Österreich an die staatliche Rechtspflege angebunden und auf die Aufnahme von Wechselprotesten beschränkt. Etwa zur selben Zeit hatte das Notariat des Ancien Regime auch in Frankreich nach der Revolution von 1789 eine Neuorganisation erfahren. Mit dem „Loi Ventôse an XI“ (vom 21. März 1803) wurden die Notare, mit umfassendem Notariatszwang und Vollstreckbarkeit ihrer Urkunden ausgestattet, zu Trägern der freiwilligen Gerichtsbarkeit und in autonomen Notariatskammern organisiert.

ERSTER BESCHEIDENER VERSUCH EINER NOTARIATSORDNUNG
Die im September 1850 vom Justizminister vorgelegte „Notariats-Ordnung“ (NO) war bloß ein verkümmertes Abbild des Ventôse-Gesetzes: Der Notariatszwang war eng, es gab keine Vollstreckbarkeit von Notariatsakten, die Autonomie der Notare als Berufsstand blieb bescheiden. Die Notariatskammern standen unter Aufsicht der Gerichte, die Notare waren im Außerstreitverfahren bloß deren Beauftragte (Gerichtskommissäre). Nach Problemen mit der Besetzung der Notarstellen konnte der Notariatszwang auch nur im Sprengel des OLG Wien für Nieder- und Oberösterreich sowie Salzburg in Wirksamkeit treten; für Tirol und Vorarlberg wurden gar keine Notare bestellt. Mit Abkehr von den Errungenschaften des 1848 etablierten Frühkonstitutionalismus war der Fortbestand des Notariats prekär: Schon im Jänner 1852 wurde die Revision der NO angeordnet. Unter Reduktion der Notariatsstellen kam es in Verbindung mit einer Neuordnung des Außerstreitverfahrens (Beschränkung des Gerichtskommissariats auf das Nachlassverfahren) und der Abschwächung der Vollstreckbarkeit von Notariatsurkunden (im Mandatsverfahren) im Mai 1855 auch zum Erlass einer
neuen NO.

FREMDBESTIMMUNG NOTARIELLER STANDESINTERESSEN
Auf diesen Grundlagen prägte sich im Rechtsleben ein Berufsbild der Notare aus, das in Gegensatz zu deren Qualifikation stand: Ihre Beiziehung als Gerichtskommissäre blieb im Ermessen der Gerichte und bei der Urkundenverfassung
standen sie in Konkurrenz mit den Advokaten; um ihre Existenz zu sichern, mussten sie Parteienvertretungen übernehmen. Durch Anbindung der Notariatskammern an die Gerichtshöfe waren die Notare in der Vertretung ihrer Standesinteressen fremdbestimmt, sie hatten keinen Einfluss auf die Besetzung der Notarstellen. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten erfolgte 1858 eine Ausdehnung der NO auf Galizien und die Bukowina sowie auf die Länder der ungarischen Krone, wo sie nach der verfassungsrechtlichen Wende von 1860/61 für das Königreich Ungarn aber wieder aufgehoben wurde. In Reaktion auf die Passivität des Gesetzgebers zur Verbesserung der Lage des Notariats etablierte sich in den cisleithanischen Ländern unter den Notaren eine Bewegung, welche auf eine Reform ihres Berufsrechts abzielte. Zur Verbreitung dieser Ideen wurde 1859 die Notariats-Zeitung geschaffen, als Träger fungierten von den Notaren seit 1862 selbst organisierte Vereine, welche sich bis 1869 in den OLG-Sprengeln Wien, Graz, Prag und Brünn etablierten.

SCHRITT FÜR SCHRITT ZUR REFORM 1871
Mit Rückkehr zum Konstitutionalismus kam es 1867 auch zu einer Initiative des Justizministers zu einer Reform des Notariats. Auf Grundlage der Forderungen des Standes wurde unter Einbindung der Notariatskammern und -vereine eine Restauration des Notariatssystems von 1850 eingeleitet: Mit Erweiterung des eigenen Wirkungskreises (Notariatszwang und Exekutionsfähigkeit der Notariatsakte) und Zuweisung weiterer außerstreitiger Agenden (relativer Notariatszwang, obligatorisches Gerichtskommissariat) sollte eine Annäherung an das französische Notariatsmodell – und mit Aufwertung der Kammern auch eine Gleichstellung mit der Advokatur – angebahnt werden. Die im Mai 1869 im Abgeordnetenhaus des Reichsrats eingebrachten Vorlagen für eine neue NO und ein Notariatszwangsgesetz konnten in der laufenden Session im Herrenhaus nicht mehr behandelt werden; nach Stand der im Sommer 1870 abgebrochenen Verhandlungen wurden sie Ende Februar 1871 im Abgeordnetenhaus wieder eingebracht, wobei jedoch der Legalisierungszwang für Grundbuchsurkunden aus dem Notariatszwangsgesetz in das zugleich im Herrenhaus in Verhandlung
gekommene Grundbuchsgesetz transferiert wurde. Alle drei Gesetze noch vor Ende der Legislaturperiode im Juli 1871 in Einklang zu bringen, war ein legistisches Meisterwerk.

BILANZ DER REFORM: VERBESSERUNGEN UND MÄNGEL
Die NO 1871 brachte teils eine Revision der NO 1855 (Notariatskammern), teils eine Restauration der NO 1850 (Notariatszwang) und teils eine Annäherung an das französische Notariat (Vollstreckbarkeit der Notariatsakte). In der Bilanz der Notariatsreform standen Verbesserungen wie auch Mängel. Zu den Verbesserungen zählten vor allem die größere Relevanz des exekutionsfähigen Notariatsakts (im Vergleich zur mandatsfähigen Notariatsurkunde). In der Handhabung des Gerichtskommissariats durch die Gerichte stellte sich allmählich eine Entspannung ein. Die Aufwertung der Notariatskammern führte zu ihrer Profilierung als autonome Standesvertretungen. Als Mängel waren zu konstatieren: Der enge Notariatszwang und die schwache praktische Relevanz der Exekutionsfähigkeit der Notariatsakte, weil es bis zur Zivilprozessreform von 1895 an einem Verfahrensrecht, in welchem der Urkunde als Beweismittel erhöhte Bedeutung
zukam, fehlte. Unverwirklicht blieb – mangels Reform des Außerstreitrechts – auch das obligatorische Gerichtskommissariat im Nachlassverfahren. Überdies kam es auch nicht zu einer Gleichstellung des Notariats mit der Advokatur.
Ungeachtet dieser Schwäche konnte aber binnen weniger Jahrzehnte eine Notariatsorganisation aufgebaut werden, durch die Österreich bis um 1900 „vom Erzgebirge bis zur Adria, vom Böhmerwald bis zur Leitha, vom Riesengebirge bis zum Pruth“ mit einem Netz an Notarstellen überzogen war.

Das Notariat von 1850 war auf der verfassungsmäßigen Grundlage des Konstitutionalismus der Verfassung 1849 aufgebaut. Nach deren Aufhebung war die Existenz des Notariats gefährdet. Doch der Stand behauptete sich mit Nachdruck.

Mit Aufhebung der Verfassung 1849 und dem Wiedererstarken der Regierungsgewalt des jungen Kaisers Franz Joseph begann die Zeit eines reaktionären Neoabsolutismus. Im Ministerrat wurde der Weiterbestand des Notariats in Frage gestellt. Bereits im Jänner 1852 forderte Franz Joseph seinen Justizminister Krauß auf, mit der Ernennung von Notaren innezuhalten und die Zweckmäßigkeit des Notariats zu überprüfen. Wenige Monate später wurde das Erfordernis der notariellen Mitwirkung bei Grundbuchseintragungen und die Notariatsaktspflicht für bestimmte Rechtsgeschäfte aufgehoben. Die Existenz des Notariats war gefährdet. Dagegen formte sich innerhalb des jungen Berufsstands Widerstand.

WICHTIGE STANDESVERTRETER 
Einer der ersten Pioniere bei der Verteidigung des Notariatsinstituts war Josef Chiari, Notar in Wien, mit seinem weitverbreiteten Werk „Das österreichische Notariat“, 1851. Es war dies die erste Auseinandersetzung mit dem Notariat in Österreich auf wissenschaftlichem Niveau. Ihm folgte 1852 Johann B. Zugschwerdt, Notar in Wien, mit seinem Werk „Notarenstand“. Eine besondere Betrachtung der schwierigen Situation des Notariats auf dem Lande brachte 1860 die Publikation des Notars aus Hermagor, Gotthard Schnerich. Von herausragender Bedeutung für die zukünftige Behauptung des Notarenstandes war jedoch die 1859 erfolgte Gründung der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“ durch den Notar Karl Ritter von Kißling aus Neumarkt am Wallersee, gemeinsam mit dem Notar aus Wels, Franz Groß, mit dem Ziel, alle Umstände aufzuzeigen, welche „Schuld am Fortschleppen des Notariatsinstituts trugen“, sowie „Übelstände offen darzulegen und Übergriffe und Eingriffe energisch zu bekämpfen“. Obwohl Kißling kurze Zeit später zur Advokatur überwechselte, blieb er ein energischer Verteidiger des Notariats, insbesondere mit seinem 1867 erschienenen Werk „Justizreform und Notariat“, bevor er 1880 wiederum als Notar in Linz in das Notariat zurückkehrte.

Eine entscheidende Stärke des jungen Notariats war das Engagement seiner  Standesmitglieder auf politischer Ebene durch über zwanzig Notare als Mandatare im Reichsrat und in den Landtagen der Kronländer. Allen voran sind als Reichsratsmitglieder anzuführen der vorgenannte Franz Groß, dann die Notare Alexander Schindler, Wien, ein begnadeter Redner und talentierter Schriftsteller, Ignaz Kaiser, Wien, Ludwig Hann, Zell am See, Anton Ryger, Rohrbach (OÖ), Johann Fleckh, Kirchbach (Stmk.) und Franz Rapp, Innsbruck. Von den Landtagsabgeordneten sind der Salzburger Bürgermeister Ignaz Harrer, der Kremser Bürgermeister Ferdinand Dinstl, und vor allem Carl Lötsch, Bürgermeister von Grieskirchen, hervorzuheben, der neben Leone Roncali, dem späteren Gründer des gesamtösterreichischen Notarenvereins und Präsidenten der nö. Notariatskammer, einer der großen frühen Standesführer und Organisatoren des Notariats war.

Als Autoren sind der Krainer Notar Karl Ribitsch („Zur Notarenfrage“, 1867), und der Wiener Notar Karl Reich („Das Notariatsprinzip“, 1867) von Bedeutung. Einen wesentlichen Beitrag bei der legistischen Ausgestaltung der Notariatsordnung 1871 leisteten die nach 1861 im Rahmen der Selbstorganisierung des Notariats, als Gegenpol zu den durch die Justizverwaltung weitgehend fremdbestimmten Notariatskammern, gegründeten Notarenvereine. Sie waren bei der Gesetzwerdung der Notariatsordnung 1871 die entscheidenden Ansprechpartner für das Justizministerium.

GLÜCKLICHES TIMING
Trotz allen Bemühungen von Standesmitgliedern war es letztendlich eine glückliche Fügung, dass der Gesetzesentwurf der Notariatsordnung samt Nebengesetzen in einem schmalen Zeitfenster, noch im Juli 1871, alle parlamentarischen Hürden überwinden konnte. Kurze Zeit später trat die Regierung Hohenwart samt Justizminister Karl Habietinek zurück. Bei den darauffolgenden Neuwahlen kam es zu einem Erstarken der konservativen Kräfte im Reichsrat, welche dem Notariat ablehnend gegenüberstanden.

Der Österreichische Notarenverein arbeitete seit seiner Gründung 1881 an Entwürfen zur Verbesserung der NO 1871. 

In den Jahren 1911 und 1918 gab es Regierungsvorlagen im Reichsrat, die unerledigt blieben. Erst die Republik besann sich 1921 mit einer NO-Novelle einiger Reformvorschläge. 1918 fand sich das Notariat ohne „k.k.“ in einer Republik Deutschösterreich wieder. In deren Staatsgebiet behielten Berufs- und Organisationsrecht weiterhin Rechtswirksamkeit. Doch das Notariat war verunsichert. Die Gründe: Forderungen nach Enteignungen, Abschaffung des Erbrechts und allgemeiner Aufhebung von Privateigentum. Sollte das alles das Ende des freien Notariats bedeuten? Der Notariatstarif machte die Geldentwertung nicht wett. Ein obligatorisches Gerichtskommissariat gab es außerhalb der Gerichtshoforte weiterhin nicht. Das Recht der Notare zur Parteienvertretung in Streit- und Exekutionssachen war auf dem Prüfstand. Gerichte und Behörden verfassten Privaturkunden. Die Einführung der Rechtspfleger in der Justiz 1929 schuf Unruhe. In Tirol waren die Legalisatoren eine gefürchtete Konkurrenz. Die Anwaltschaft forderte öffentlich-rechtliche Beurkundungsfunktionen. Die Winkelschreiberei, die besonders die Landnotare gefährdete, war ständiges Thema. Öffentliche Agenten, Behördenvertreter, Wirtschaftsorganisationen, Geschäftsvermittler, Vereine und andere einschlägig Interessierte übten sich als Urkundenverfasser und Rechtsvertreter.

WUNSCHLISTE AN DEN JUSTIZMINISTER
Wegen Problemen bei der Besetzung von Notarstellen gab es Differenzen zwischen Notariatskammern und Justizverwaltung. Etliche Besetzungsverfahren endeten damit, dass sich die Justizverwaltung über die Besetzungsgutachten der
Notariatskammern hinwegsetzte. Damit wurde nicht zuletzt die Fachkompetenz der Notariatskammern in Frage gestellt. Die Standesvertretung forderte ohne Erfolg, das Besetzungsrecht des Justizministers unter Ausschluss von Zwischeninstanzen an einen Dreiervorschlag der Notariatskammern zu binden. Daraus sollte der Minister seine Wahl treffen. Ferner drängte der Stand auf Zugangsbeschränkungen zur Kandidatenschaft und deren Eingliederung in Notariatskollegien und Notariatskammern. Eine gesetzliche Festigung des Delegiertentags und Reformen im Disziplinarrecht standen ebenso auf der Wunschliste wie die Erweiterung des notariellen Wirkungskreises, Stärkung des vollstreckbaren Notariatsaktes,  Notariatspflicht für sämtliche Grundbucheingaben und Abschaffung der gerichtlichen Legalisierungstätigkeit.

NOVELLEN BRINGEN WENIG ZÄHLBARES
Eine NO-Novelle 1919 brachte bloß Übergangsbestimmungen für die Ernennung zum Notar und für nach „altösterreichischem“ Recht eingetragene Notariatskandidaten. Die bestehenden Disziplinarsenate der Gerichte wurden aber doch um Notarenrichter erweitert. Der notarielle Wirkungskreis erfuhr keine Änderungen. Die Kandidaten mussten weiter auf Aufnahme in die Notariatskollegien warten. Erst 1921 brachte eine NO-Novelle Verbesserungen im Organisationsrecht, doch kaum im Berufsrecht. Aber der Delegiertentag wurde endlich gesetzlich näher geregelt und die Kandidatenschaft in die Standesorganisation eingegliedert. Eine Aufwertung des vollstreckbaren Notariatsakts, ein obligatorisches Gerichtskommissariat und andere Anliegen des Standes blieben unberücksichtigt. Auch eine NO-Novelle 1929 und Bundesgesetze vom Juli 1929 und April 1930 brachten kaum Zählbares. Zur Zeit des Ständestaats von 1934 bis 1938 wurde, kaum überraschend, die Standesautonomie eingeschränkt. Ein beachtlicher Erfolg war allerdings 1926 die Schaffung der Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats in einem besonderen Bundesgesetz.

VORLÄUFIGES ENDE DER GESCHICHTE
Bis zu ihrem Ende 1938 hatte die Republik mit mannigfaltigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Problemen zu kämpfen, keine eine Notariatsreform fördernde Situation. Die Geschichte des österreichischen Notariats endete – vorläufig – mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Im Jahr 1939 wurde in der „Ostmark“ die deutsche Reichsnotarordnung eingeführt, das österreichische Notariat in das deutsche Reichsnotariat, Notarenverein und Verein der Notariatskandidaten in den NS-Rechtswahrerbund eingegliedert. In seiner Dissertation stellt Bernhard Distlbacher ausführlich die Geschichte des Notariats der Jahre 1918 bis 1938 dar.

"Nur wer seine Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft." (Wilhelm von Humboldt)

Das Notariat ist eine Institution, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Im 13. Jahrhundert finden wir bei den geistlichen Zivilgerichten Notare, die bald besonderes Vertrauen genossen. Kaiser Maximilian gab unserem Berufsstand 1512 mit der Reichsnotariatsordnung eine gesetzliche Basis. Unsere Notariatsordnung (1871) wurde vielfach der Rechtsprechung, den Wünschen der Bevölkerung und den Erfordernissen der Zeit angepasst, sodass die Notare mit einer gewissenhaften Berufsausübung und den dafür geschaffenen Instrumenten wirkungsvoll vertrauensbildend der Bevölkerung dienen können. Es ist erfreulich, dass anerkannt wird, wie Notare im Bereich der Vorsorgerechtspflege Staatsaufgaben
wahrnehmen, die richterlichen Funktionen nahekommen. Dies ist jedoch kein Schutzmantel für das Notariat, wenn marktliberale Verfechter uneingeschränkte Deregulierung verlangen. Der Nutzen der Tätigkeit des Notars als Träger eines öffentlichen Amtes muss für die Gesellschaft erkennbar sein. Im Alltag prägt jeder Notar das Bild, das der Bürger und die Öffentlichkeit von der Institution des Notariates hat.

BERUFSBILD IM WANDEL
Das Erscheinungsbild des öffentlichen Amtes des Notars unterliegt immer einer konkreten Umgestaltung entsprechend der jeweiligen Epoche. Jede Generation muss in ihrer Zeit beweisen, dass sie zwar an die lange Geschichte und Tradition anknüpft, aber im gewandelten Umfeld anpassungsfähig ist. Es muss bewusst sein, dass jede Veränderung die Chance zu neuem Erfolg sein kann. Das österreichische Notariat hat richtungsweisende Schritte in der Digitalisierung gesetzt: das Zentrale Testamentsregister 1971, das Treuhandregister 1992, die Notartreuhandbank als erste vollelektronische Bank 1997 und besonders cyberDOC, das erste elektronische Urkundenarchiv Europas, das die Basis für den elektronischen Rechtsverkehr darstellt.

KI ALS NEUE HERAUSFORDERUNG
Nun ist ein weiterer Schritt gefordert: die Künstliche Intelligenz (KI), die unser Berufsleben beeinflussen und verändern wird. Fachleute behaupten, dass diese Veränderung grundlegender als Feuer oder Elektrizität sei. KI wird vielfach definiert als „Überbegriff für Anwendungen, bei denen Maschinen menschenähnliche Intelligenzleistungen erbringen“. Wir bemerken, dass KI die Welt bereits verändert hat: die vier größten Wirtschaftkonzerne basieren im Wesentlichen auf KI, in Europa ist der VW-Konzern zur größten digitalen Firma Deutschlands geworden. Durch Anwendung von KI ist die amerikanische Autofirma Tesla im Börsenwert größer als VW, Mercedes und BMW zusammen.
Die immer vielfältigere und sich beschleunigende Nutzung von KI-Systemen stellt vor völlig neue Herausforderungen. Das Finden, Benutzen und der sinnvolle Einsatz der richtigen KI-Systeme ist schwierig und braucht fundiertes Wissen und Erfahrung. Das Notariat ist dabei auf seine Experten angewiesen. Der Vorteil ist, dass KI auch in kleinen Schritten angewendet werden kann. Irreführend ist, dass KI menschliche Intelligenz ersetzen oder übertreffen kann. So verblüffend das Ergebnis der Arbeit von KI-Systemen ist, so können sie den Menschen nicht das Wasser reichen und bleiben sinnvolle und ergänzende Werkzeuge menschlichen Tuns. Aber sicher ist, dass die neuen Programme als Software-Roboter selbständig arbeiten und im Büro eine Vielfalt von ergänzenden Arbeiten leisten können. Man spricht im Wesentlichen von einer Symbiose zwischen Mensch und Maschine, sodass unsere Arbeitskräfte durch den Einsatz von KI effektiver, wirkungsvoller und produktiver arbeiten können und nicht befürchten müssen, verdrängt zu werden. Wir sollten uns gerade an dieser Schwelle der Technik nicht verschließen und alle Möglichkeiten einer fundierten Ausbildung wahrnehmen. Beruhigend ist, dass diese Schlüsseltechnologie mithilfe von Fachleuten integrierbar ist und effektiv wirkt. Man geht davon aus, dass KI im Büro bald wichtiger wird als der Computer. Die Digitalisierung wird eine entscheidende Rolle spielen. Wir müssen uns aber auch der Gefahren bewusst sein. Langfristig könnte das Grundbuchwesen durch die Blockchain-Technologie ersetzt werden. So hat Schweden einen Pilotversuch für ein Blockchaingestütztes Katasteramt durchgeführt. Es könnte die Blockchain-Technologie das Grundbuch und den Notar ersetzen. Den Notar werden wir auch in Zukunft benötigen, aber seine Arbeitsweise und seine Aufgaben werden durch die Digitalisierung anders aussehen. Tatsächlich könnte jedoch die Blockchain-Technologie den Notaren gefährlicher werden als politische Vorstöße. Ob das Notariat Gewinner oder Verlierer in der Umsetzung neuer Technologien ist, das entscheidet es allein und selbst durch sein Handeln. Zuversicht, Agilität, Kreativität und Einsatz sind unabdingbare Voraussetzungen für den langfristigen Erfolg.


Es gilt das Zitat Victor Hugos: „Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.“

Notariatsordnung und Notare gehören zusammen. Denn was wäre der Notar ohne die Notariatsordnung? Gäbe es etwas Schlimmeres? Höchstens eine Notariatsordnung ohne Notare. Das mag es rechtfertigen, aus Anlass des Jubiläums der Notariatsordnung auch ein paar – freilich nicht immer ernst gemeinte – Anmerkungen zum Berufsstand selbst zu machen.


I. JURISTEN UND NOTARE
Ob der Notar ein Jurist sein muss, wird man im Allgemeinen als dumme Frage bezeichnen. Dennoch wurde sie Anfang der Siebzigerjahre bei einem Juristenball unter den Teilnehmern gestellt und heftig diskutiert, weil der damalige Bundespräsident die Ballgäste mit den Worten „Liebe Juristen und Notare!“ begrüßt hatte. Seine Unterscheidung hat sich allerdings nicht durchgesetzt, zumal man aus den §§ 117a und 6 Abs 1 lit b NO leicht gegenteilige Schlüsse ziehen kann.

Eines ist an der Unterscheidung des damaligen Bundespräsidenten richtig: Die Notare sind keine gewöhnlichen, keine beliebigen Juristen, sie haben sehr spezifische Eigenschaften, von denen freilich hier nur einige erwähnt werden können.

II. DER NOTAR UND DIE URKUNDE
Der Name „Notar“ kommt daher, dass der Notar immer jemand war und auch heute noch ist, der etwas „notiert“. Und was braucht man zum „Notieren“? Heute vielleicht nicht mehr Pergament und Tinte, aber jedenfalls Papier. Und durch die Tätigkeit des Notars wird das Papier zu einem höheren Wesen: zur Urkunde. Die Urkunde musste man, wenn sie aus mehreren Blättern bestand – zumindest früher – auch sehr schön heften können. In meiner Jugend hatten die Notariatskandidaten am Anfang ihrer Karriere vierzehn Tage lang nur das Heften von Notariatsakten mit Nadel und roter Schnur oder Zwirn zu üben. Noch vor ein paar Jahren hätte niemand gedacht, dass, angesichts der neueren Judikatur des OGH zum Testament mit mehreren Seiten, die Fähigkeit zum Heften einmal wieder eine so große Bedeutung erlangen würde. Daher dürfte man sich nicht wundern, wenn man einmal ein Inserat eines Notars mit dem Inhalt „Suche Notariatskandidaten mit ausgezeichneten Nähkenntnissen“ finden sollte.

Damit eine qualifizierte notarielle Urkunde entsteht, müssen eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein, zu welchen auch die „Vorlesung des Aktes“ (§ 52 NO) gehört. Nicht alle Parteien haben für diese Vorsichtsmaßnahme Verständnis, wozu mir ein Beispiel immer in Erinnerung bleiben wird. Als vor Jahrzehnten die Stadt Wien das „Alte AKH“ der Universität Wien schenken wollte, konnte ich meinen Lehrer Winfried Kralik, Universitätsprofessor und Notar, dafür gewinnen, den erforderlichen Notariatsakt (für die Universität um Gotteslohn) zu errichten. Dieser war aber sehr lang. Nachdem er schon einige Minuten zugehört hatte, sagte der damalige Bürgermeister der Stadt Wien, Helmut Zilk, dass „wir die Vorleserei wirklich bleiben lassen können“. Erst als ihm Kralik die Folge der Nichtigkeit dramatisch vor Augen geführt hatte, war er bereit, sich auch den Rest anzuhören.Notariat und Notariatsurkunde gehören also zusammen. Große Gefahren drohen allerdings der Notariatsurkunde heute von der „Digitalisierung“. Möge sie diese überleben! Denn ein Notar ohne Notariatsurkunde wäre etwas Unvorstellbares.

III. RECHT OHNE STREIT
Die große Anerkennung und die Autorität, welche das Notariat bis auf den heutigen Tag besitzt, beruht nicht nur auf der langen und sorgfältigen Ausbildung, welche die Notare auszeichnet, sondern auch darauf, dass sie wichtige Rechtsakte setzen, ohne dabei mit Gegnern innerhalb und außerhalb des Gerichts zu streiten, um Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Notare haben vielmehr „das Recht ohne Streit“ auf ihre Fahnen geheftet.
Eine erfreuliche Konsequenz dieser Beschränkung auf das „Außerstreitige“ ist, dass die entstellenden Hässlichkeiten, die z.B. Knigge – ungeachtet der Höflichkeit, die ihm zugeschrieben wird – den Juristen vorhält, den Notaren nicht entgegengehalten werden können. Sie treffen nur die „streitigen Juristen“. „Die Wesensart der Juristen“, meint Knigge (1), „genüge schon, um bei einem Rechtsstreit, den jeder unbefangene Kopf in einer Stunde schlichten könnte, viele Jahre lang hingehalten zu werden, ganze Zimmer voll Akten zusammengeschmiert zu sehen und dreimal so viel an Unkosten zu bezahlen, als der Gegenstand des ganzen Streits wert ist, ja am Ende die gerechteste Sache zu verlieren und offenbares Eigentum fremden Händen preiszugeben.“ All das kann man dem Notar nicht nachsagen.

IV. DER NOTAR IN DER KUNST
Fast traut man sich nicht mehr, es besonders zu erwähnen: Welchen Stellenwert der Notar in unserer Gesellschaft besitzt, zeigt sich in der Beachtung, die er in allen Kunstgattungen findet und mit der sich wohl kein anderer juristischer Beruf messen kann. Diese „Qualität“ des Notars ist schon recht gut erforscht. So befassen sich vor allem in der „Weißmann-FS“ vier Beiträge (2) mit dem Notar auf der Sprechbühne, in der Literatur, in der bildenden Kunst und in der Oper. Allein wenn man sich auf die Oper beschränkt, sind die Auftritte des Notars so zahlreich, dass man nicht einmal an eine Aufzählung denken kann – es gibt dort einige Dutzend von ihrer Sorte. Warum ist das so? Der Hauptgrund liegt darin, dass Themen der Oper immer wieder zentrale Ereignisse im menschlichen Leben sind, bei denen meist auch der Notar eine wichtige Rolle spielt: Geburt, Liebe, Verlobung, Heirat, Vermögensübertragung, Tod. Da gibt es eine Menge Arbeit für die Notare.
Es kann allerdings nicht verschwiegen werden, dass das Auftreten des Notars von Librettisten und Komponisten auch dazu genützt wird, um sich an der Rechtsordnung selbst „zu rächen“, weil sie ihnen lästig ist. Es wird daher der Notar vielfach mit dem verhassten Recht gleichgesetzt und – oft namenlos – als eine Art „Abstractum“ angesehen, er ist sozusagen „die Rechtsordnung an sich“, die bei dieser Gelegenheit verspottet werden soll. In schwarze Gewänder gehüllt, obergescheit und beckmesserisch, humorlos und bürokratisch, symbolisiert er das ganze Unbehagen, das der Laie dem Recht und der Juristenzunft entgegenbringt. (3) Ein Beispiel: Unseren Notaren ist das Amtskleid abhandengekommen. In der Oper haben sie noch ein Amtskleid, und zwar ein solches, das dem gerade erwähnten Notarenbild entspricht. Als Beispiel kann man die Kostümbeschreibung für die Uraufführung des Rosenkavaliers in Dresden und Wien nehmen (4): „Der Notar der Feldmarschallin. Dicker asthmatischer Zwerg mit Spinnenbeinen. – Tabakbrauner Rock von rauem Tuch. Ebensolche Weste. Aus der Rocktasche hängt ein riesiges blaues Schnupftuch. Schwarze schlottrige Wollstrümpfe, matte Schuhe, riesiger Dreispitz. Die dreizipflige Perücke ist über der Stirne hoch toupiert. Rohrstock mit Goldknopf. Schwarze Hornbrille.“ Die Beschreibung des „Schreibgehilfen des Notars“ ist um keinen Deut wohlwollender.
Man braucht nicht zu erwähnen, dass die Notare in der Oper oft auch sonst für eine humorvolle Unterhaltung herhalten müssen, wie der Notar Amantio Nicolao in „Gianni Schichi“, der dort ordentlich hinters Licht geführt wird (5), oder der gerade erwähnte (namenlose) Notar im „Rosenkavalier“, der mit dem Ochs auf Lerchenau einen hochinteressanten juristischen Disput darüber führt6, ob eine Morgengabe an den Ehemann gültig vereinbart werden kann oder ob dieses Geschäft nur zugunsten der Frau möglich ist.

V. AM BESTEN HAT ES DER NOTAR
Mein verstorbener Freund Heinz Krejci hat einmal ein langes „Notarenlob“ in Gedichtform geschrieben.7 Die Lektüre des ganzen Büchleins lohnt sich. Ich muss mich hier zum Abschluss mit ein paar Versen begnügen:
„Wir sahen im Vorübergleiten
der Rechtsberufe Schattenseiten.
Und plötzlich wird uns allen klar:
Am besten hat es der Notar.

Sein Wesen, wie der Staat ihn schuf,
teils Amtsperson, teils Freiberuf,
vom Streite fern, doch nicht vom Recht,
so sorgt er vor, dass, was gerecht,
besiegelt wird und strikt bewiesen.
Wird Sicherheit im Recht gepriesen
und Unklarheit vorweg gemindert,
so wird ein spät’rer Streit verhindert.

Der Zugang zum Beruf hat Grenzen,
es stören keine Konkurrenzen,
gesundheitlich ist’s Amt nicht schädlich
und nährt auch seine Leute redlich.
Auch ist man allseits angesehen.
Ja, ein Notar, der hat es schön.“

 

(1) Über den Umgang mit Menschen 331ff; ausführlicher Welser, Böses über die Juristen 17ff
(2) Freiheit, Sicherheit, Recht, Festschrift Georg Weißmann 1024ff
(3) Ausführlicher Welser, Böses über die Juristen 125ff
(4) Den Hinweis verdanken wir List, Der Notar in der Oper, Festschrift Georg Weißmann 1059.
(5) Ausführlich Welser, Böses über die Juristen 130ff
(6) Ausführlich Welser, Böses über die Juristen 134ff
(7) Notarenlob, MANZ 2013