1. Einleitung, Todesnachricht, Begräbnis
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in den Morgenstunden des 7. November 1889 im Juristenstand Wiens die Nachricht, dass am Vorabend, am Mittwoch, dem 6. November, um 19:30 Uhr, Dr. Leone Roncali, k. k. Notar, verstorben war. Roncali, einer der ganz großen Führer und Organisatoren des österreichischen Notariats, schied in der von ihm errichteten Villa in der sogenannten „Cottage“ in Wien-Währing aus dem Leben. Roncali starb in seinem 50. Lebensjahr. Sein Tod kam für seine Freunde, Kollegen und insbesondere für seine Familie viel zu früh, aber dennoch nicht unerwartet.
Anfang August 1884 folgte er einer Jagdeinladung in das Jagdrevier eines Bekannten in Höflein bei Bruck an der Leitha. Bei der abendlichen Rückfahrt gegen Bruck löste sich bei einem der Jagdgewehre unbeabsichtigt ein Schuss, die Pferde scheuten, der Kutscher wurde vom Wagen geschleudert und Roncali sprang von dem dahinrasenden Wagen, stürzte aber so unglücklich, dass die Räder des Gefährts ihm über beide Beine fuhren und sie brachen. Eine Rettung erfolgte erst morgens um 3 Uhr früh, als man Roncali in ein nahes Bauernhaus brachte, wo er endlich ärztliche Hilfe erhielt. Von dieser Verletzung erholte sich Roncali nie mehr so richtig. Im Gegenteil, sie beförderte eine sich bereits Jahre zuvor entwickelnde Herz- und Niereninsuffizienz. Furchtbare Beklemmungen und qualvolle Erstickungsanfälle waren die Folge und wiederholten sich immer öfter. Bereits im Winter des Jahres 1888/1889 musste er sich beurlauben lassen.
Seinen letzten Sommer verbrachte er, wie schon seit 17 Jahren, am Eichberg bei Gloggnitz. Dieser Ort, den er liebte und der ihm bisher immer Erholung und Kraft verlieh, half diesmal nicht. Mitte September nach Wien zurückgekehrt, verschlechterte sich sein Zustand, und Mitte Oktober galt sein Zustand seinen Ärzten bereits als hoffnungslos.
Am 7. November 1889, also bereits einen Tag nach seinem Ableben, rief die n. ö Notariatskammer mit der folgenden Todesanzeige alle Kollegen dazu auf, sich zahlreich an dem für Samstag, den 9. November, angesetzten Trauerkondukt zu beteiligen:
„Die k. k. n.ö. Notariatskammer gibt tieftrauernd Nachricht von dem Ableben ihres hochgeehrten Präsidenten, des Herrn Dr. Leone Roncali, k. k. Notar, Ritter des Ordens der Eisernen Krone III. Kl., Präsident des österreichischen Notarenvereins, Obmann des Pensions-Instituts, Redakteur der Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich, welcher am 6. November d. J. von seinem langwierigen Leiden durch den Tod erlöst worden ist. Die Freunde des Verstorbenen werden geziemend ersucht, durch zahlreiche Beteiligung an der Leichenfeier, welche Samstag, den 9. d. M., vormittags vom Trauerhause aus in Währing, Anastasius-Grün-Gasse 50, statthaben wird, dem um das Notariat und den österreichischen Notarenstand hoch verdienten Manne die letzte Ehre erweisen zu wollen.
Wien, den 7. November 1889. Die k. k. Niederösterreichische Notariatskammer“. 1
Der Sarg mit den sterblichen Überresten Roncalis wurde, begleitet von 24 fackeltragenden Kollegen – 12 Notare und 12 Notariatskandidaten – von seiner Villa in der Anastasius-Grün-Gasse 50 bis zur sogenannten Währinger Linie geführt. Von dort erfolgte die Überstellung seiner sterblichen Überreste nach Gloggnitz, wo Roncali am dortigen Ortsfriedhof seine letzte Ruhe fand. Zahlreiche hohe Repräsentanten des öffentlichen Lebens, aus Politik und Justiz, wie etwa Justizminister Dr. Graf Schönborn, Sektionschefs und Sektionsräte des Justizministeriums und der Finanzprokuratur, Gerichtshofpräsidenten sowie alle bedeutende Vertreter aus dem Notarenstand und der Anwaltschaft begleiteten Roncali auf seinem letzten Weg. Aus allen Teilen der Monarchie trafen Kondolenzen und Kranzspenden ein. 2
2. Lebenslauf und beruflicher Werdegang
Wer war Leone Roncali, woher kam er und mit welchen Leistungen, in welchen Positionen gelang es ihm, in so kurzer Zeit eine beinahe unersetzbare Bedeutung für das österreichische Notariat zu erlangen? Sein Werdegang lässt bereits seine zielstrebige Energie, scharfe Intelligenz, außergewöhnlich rasche Auffassungsgabe, verbunden mit warmherziger Tatkraft erkennen, wie sie von seinen Kollegen und Zeitgenossen beschrieben wird.
Roncali wurde im Jahr 1840 in Bergamo, Lombardei, als Sohn des dort tätigen Arztes Dr. Angelo Roncali geboren. Seine Mutter, Antonia, geborene Schneider, stammte aus Wien. In Bergamo besuchte er das Gymnasium, das er 1857 abschloss, um in Pavia an der dortigen Universität das Studium der Rechte zu beginnen. Als diese Universität im Zuge der beginnenden Unruhen, die das Risorgimento im Königreich Lombardo-Venetien mit sich brachte, im Dezember 1858 durch die österreichische Verwaltung geschlossen wurde und den Studenten freigestellt wurde, ihre Studien an einer anderen Universität fortzusetzen, folgte er seiner Mutter, welche mit ihm nach Wien zurückkehrte.
Seine Kenntnisse der deutschen Sprache waren damals noch weit entfernt von jener außergewöhnlichen Rhetorik in Wort und Schrift, die ihn später auszeichnete. Er setzte in Wien sofort sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien fort, legte schon im Juli 1859 die erste Staatsprüfung ab und vollendete bereits 1861 seine Studien, indem er die judizielle Staatsprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg in allen Fächern bestand.
Er trat sofort in das Notariat ein und begann vom 15. Juli 1861 bis 30. April 1862 seine Notariatspraxis bei Notar Ludwig Breinreich in Laa an der Thaya. 3
Bei Notar Breinreich, einem frühen und sehr produktiven Mitarbeiter der Notariats-Zeitschrift, hatte Roncali vermutlich die erste Gelegenheit, diese Zeitung, die damals den Titel „Zeitschrift für das österreichische Notariat“ trug, näher kennenzulernen und sich mit der wichtigen Bedeutung dieses Organs für das Notariat auseinanderzusetzen. Als im Frühjahr 1862 in Wien, in der Kanzlei des Notars Dr. Edmund Sterzinger, an der Amtsstelle Wien-Alsergrund II, eine Kandidatenstelle frei wurde, kehrte er beruflich nach Wien zurück. Er wirkte in der Kanzlei von Dr. Sterzinger vom 26. Mai 1862 bis Ende 1865, bis zu dessen Übersiedlung nach Wien-Neubau, und wurde als Notariatskandidat von dessen Amtsnachfolger Notar Leopold Wimmer übernommen. Als dieser 1868 schwer erkrankte und im Jahr darauf, 1869, mit 44 Jahren verstarb, substituierte Roncali dessen Amtsstelle zunächst als dessen Notarsubstitut und in weiterer Folge als Notariatssubstitut der verwaisten Amtsstelle. Er wechselte seinen Ausbildungsplatz und war ab 18. April 1869 bei Notar Dr. August Bach 4 tätig, der die Notarstelle Wien-Innere Stadt XXIII mit der Anschrift Innere Stadt, Singerstraße Nr. 885 (heute: Singerstraße Nr. 13, Nicolaigasse 2 5 innehatte. Dr. August Bach war Mitglied der Notariatskammer beim Landesgericht Wien. Bereits vor seinem Dienstantritt bei Notar Dr. August Bach legte Roncali im Jahr 1866 am 21. April und 7. Mai die Notariatsprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg ab. Roncali war vom Beginn seiner notariellen Tätigkeit an nicht nur beruflich, sondern auch gesellschaftlich und in familiärer Hinsicht fest mit dem Notariat verbunden. Am 29. September 1866 ehelichte er in Linz Katharina Hocke, die Tochter des Linzer Notars Johann Wenzel Hocke.
Die wirtschaftliche Situation für die junge Familie, der am 19. Juli 1867 ein Sohn namens Camillo, geboren wurde 6, war vermutlich nicht leicht und der unbändige Schaffensdrang des 27-jährigen Leone Roncali ließ diesen zahlreiche Bewerbungsgesuche um ein Notariat stellen, so etwa 1867 um die Notarstelle in Weissenbach, 1868 um die in Aigen und in Haslach, 1870 um die in Amstetten, 1871 um die in Gloggnitz und 1872 um die in Schwechat und in Bruck an der Leitha. 7
Als jedoch Notar Dr. August Bach am 19. Februar 1872, an einer Lungenlähmung verstarb, wurde Roncali am 27. Februar 1872 zum Substituten der erledigten Amtsstelle Wien-Innere Stadt XXIII bestellt.
Er bewarb sich für diese Stelle, und wurde mit Erlass des Justizministeriums, JMErl. vom 19. Mai 1872, Zl.4541, dort zum k. k. Notar ernannt. Bei der Besetzung dieser Stelle wurde besonders berücksichtigt, dass er sich „durch seine literarischen Arbeiten um die gedeihliche Entwicklung und Fortbildung des Notariatsinstituts in Österreich verdient gemacht habe“. Seine Notariatskanzlei eröffnete er an der Anschrift, Wien-Innere Stadt, Rauhensteingasse 10. Am 14. Februar 1883 übersetzte er schließlich im Wege eines Amtsstellentausches mit k. k. Notar Dr. Karl Kropatschek, der sein Nachfolger auf seiner ersten Amtsstelle in Wien-Innere Stadt XXIII wurde, auf die Amtsstelle in Wien-Alsergrund I 8, und richtete seine Kanzleiräumlichkeiten in Wien-Alsergrund, Währinger Straße 16, ein. Dieses Haus wurde fünf Jahre später, im Jahre 1888, vom Pensionsinstitut des Österreichischen Notarenvereins erworben, und befindet sich heute noch im Besitz der Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats. Seine damaligen Kanzleiräumlichkeiten werden bis heute ununterbrochen als Notariatskanzlei genützt.
3. Welche Funktionen übte Leone Roncali im Notariat aus?
Bereits innerhalb kurzer Zeit nach seinem Berufseintritt in den Notarenstand beteiligte sich Roncali an der Gestaltung der Notariats-Zeitschrift, zunächst als Autor von Beiträgen, ab 1868 als Mitredakteur und seit 1872 bis zu seinem Tod als deren alleiniger Redakteur. 1881 wurde Dr. Leone Roncali zum Begründer und zum zeitlich ersten Präsidenten des Österreichischen Notarenvereins gewählt, 1883 wurde er zum Proponenten, Schöpfer und ersten Vereinsobmann des Pensionsinstituts des Österreichischen Notarenvereins und verwirklichte damit seine bereits in seinen frühesten Tagen im Notariat geborene Idee einer funktionierenden Versorgungseinrichtung für die Mitglieder seines Berufsstandes und deren Angehörigen. 1885 wurde er als Nachfolger des 1885 verstorbenen Präsidenten der n.ö. Notariatskammer, Dr. Franz Leidesdorf, zum zeitlich dritten Präsidenten dieser Standesorganisation gewählt. Roncali vereinigte somit erstmalig alle leitenden und maßgeblichen Funktionen des Notarenstands in einer Hand. 9 In allen seinen Funktionen war er stets ein unermüdlicher Vorkämpfer für und brillanter Verfechter des in den ersten Jahrzehnten seiner Wiedereinrichtung 1850 so sehr umstrittenen und bekämpften Notariatsinstituts in Österreich. Zur Erreichung dieser Positionen halfen ihm dabei immer wieder seine hohe Intelligenz und ungewöhnliche Energie verbunden mit einer außerordentlichen Sprachbegabung.
4.Roncali und die Situation des österreichischen Notariats in den Jahren 1860 bis zur Notariatsordnung 1871.
Um die Bedeutung von Leone Roncali für die erfolgreiche und weitere Entwicklung des österreichischen Notariats erkennen und schätzen zu können, ist es erforderlich, einen kurzen Blick in die damals herrschende gesellschaftliche, politische und rechtliche Situation des österreichischen Notariats zu werfen. Welche beruflichen Möglichkeiten boten sich einem jungen Juristen wie Roncali bei seinem Eintritt in das Notariat?
Das Schicksal des Notariats wurde seit dessen Einführung in Österreich im Jahr 1850 wesentlich durch die Verfassungsentwicklung im Kaisertum Österreich beeinflusst. Mit den Niederschlagungen der Märzrevolution 1848 in Wien und des Aufstands in Ungarn mit russischer Hilfe, beherrschte die Reaktion das politische Leben. Die wieder gefestigte absolute Regierungsgewalt Kaiser Franz Josephs veranlasste diesen, die oktroyierte Märzverfassung vom 4. März 1849 aufzuheben und am 31. Dezember 1851 die Silvesterpatente zu erlassen. Damit begann die neoabsolutistische Reorganisation vieler liberaler Errungenschaften. Die Pressefreiheit wurde wieder aufgehoben und das öffentliche Gerichtsverfahren abgeschafft. Der gewählte Reichstag wird aufgelöst und durch ein rein beratendes Organ, den Reichsrat, ersetzt. Die Einführung eines Notarinstitutes mit der Notariatsordnung von 1850 war zwar durch die Abschaffung der Patrimonialgerichte und Schaffung einer Gemeindestruktur nicht mehr rückgängig zu machen. Der Adel lehnt jedoch, durch den Entfall der Einnahmen aus grundherrschaftlichen Rechtsgeschäften, aber auch wegen der Verpflichtung, Grundbuchsurkunden vor einem Notar errichten zu müssen, mehrheitlich das Notariatsinstitut ab. Verständlicherweise unbeliebt war das Notariat auch bei den ehemaligen Patrimonialbeamten, bei den Magistraten und Landesbehörden, die bisher die Errichtung von Privaturkunden besorgt hatten. Mit der Notariatsordnung 1855 wurde endgültig die Notariatsaktpflicht für bestimmte Urkunden denen eine erhöhte Beweiskraft zukommen sollte, beseitigt. An deren Stelle trat die Möglichkeit, auf den nunmehrigen Privaturkunden die Unterschriften der Parteien beglaubigen zu lassen. Weiters wurde der örtliche Wirkungskreis der Notare auf den gesamten Sprengel des Gerichtshofs erster Instanz erweitert. Die Aufnahme von Notariatsakten außerhalb des Notariatsbezirks blieb ihnen jedoch, bei sonstigem Verlust der Kraft als öffentliche Urkunde, versagt. Die Möglichkeit der Vollstreckbarmachung der Notariatsurkunden in Entsprechung des französischen Rechts wurde nicht gegeben. Das für eine schnellere Durchsetzung von Forderungen aus Notariatsakten ins Leben gerufene gerichtliche Mandatsverfahren konnte sich jedoch in der Praxis nicht durchsetzen. Den Notaren wurde aber das Recht eingeräumt, auf Verlangen der Parteien, für diese Eingaben in Außerstreitsachen zur Einreichung bei den entsprechenden Behörden zu verfassen. Die Aufgaben des Notars wurden dadurch verfälscht und eingeschränkt, Kernfunktionen wie die Notariatsaktpflicht und deren Vollstreckbarkeit beseitigt und die notarielle Tätigkeit auf die Errichtung von Privaturkunden und Vornahme von Legalisierungen gelenkt. Die ausschließliche Kompetenz zur Aufnahme von Wechselprotesten spielte in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle.
Mit der Niederlage Kaiser Franz Josephs im Piemontesischen Krieg und der dadurch drohenden Schuldenkrise sah sich der Kaiser genötigt – auch zur Beruhigung ausländischer Finanzkreise – von seinem neoabsolutistischen Regierungskurs abzuweichen. Er schuf zunächst mit dem Oktoberdiplom vom 20. Oktober 1860, mit dem der Reichsrat um Vertreter der Landtage erweitert werden sollte und stellte damit dieses Beratungsgremium auf eine breitere gesellschaftliche Basis. Der bisherige Justizminister Franz Seraphin Graf Nadásdy-Fogarás, der 1857 Justizminister Freiherr von Krauß, unter dem die restriktive Notariatsordnung 1855 erlassen wurde, abgelöst hatte, wurde kurzfristig Präsident des verstärkten Reichsrats. Nadásdy Fogáras schuf u.a. eine neue Grundbuchsordnung 1855 und erließ 1854 ein Gesetz über Verlassenschafts- und Kuratelsangelegenheiten, war aber kein Freund des Notariats. Mit dem Februarpatent vom 26. Februar 1861 wurde der Reichsrat als Zweikammern-System eingerichtet, und zwar mit einem Herrnhaus, dessen Mitglieder vom Kaiser ernannt wurden, und einem Abgeordnetenhaus, deren Mandatare von den neu eingerichteten Landtagen entsendet wurden. Als leitenden Staatsminister griff man wieder auf Anton Ritter von Schmerling, dem Initiator der Notariatsordnung 1850, zurück, der in der Folge bis 1865 die Staatsgeschäfte führte. Schmerling war dabei entscheidend an der Gestaltung der neuen Februarverfassung beteiligt. Unter seiner Regierungsperiode wurde eine neue Gemeindeverwaltung, das Protestantenpatent 1861, und insbesondere aber die Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und zum Schutz des Hausrechts erlassen.
Dieser Liberalisierungsschub kam dem unter politischen Druck stehenden Notariat aber nicht zugute. Auch die neuen politischen Umstände ermöglichten kein effizienteres Eintreten der Notariatskammer für die Interessen des Standes. Es fehlte an Organen, welche sich bei den betreffenden staatlichen Stellen für die Interessen des Notariats und deren Standesmitglieder einsetzen hätten können. Die Notariatskammern standen allesamt unter der Leitung der Direktoren der Notariatsarchive, welche an den Gerichtshöfen erster Instanz eingerichtet waren. Vorstand der Notariatskammer war daher stets ein Rat des betreffenden Landesgerichts. Von der Möglichkeit, den Vorstand aus dem Kreis der Notare zu ernennen, wurde vom Justizminister kein Gebrauch gemacht. Hemmend für die Entwicklung der Notariatskammern zu echten Standesvertretungen war, wie oben erwähnt, vor allem der Modus der Besetzung der Funktionen des Kammervorstands, welche in der Notariatsordnung geregelt war. Diese Positionen, sei es durch aktive oder resignierte Notare zu besetzen, wurde unter dem Vorwand zurückgewiesen, eine mögliche Befangenheit oder Parteinahme in disziplinare und sonstigen Kammerangelegenheiten hintanhalten zu wollen. Diese Bedenken wurden auch damals schon vom Notariat als nicht nachvollziehbar angesehen, weil gegenüber der Advokatur und deren Kammerfunktionären keine analogen Vorbehalte bestanden, obwohl auch dort bis zum Erlass der neuen Rechtsanwaltsordnung 1869, die Anzahl der Advokaturstellen gesetzlich geregelt, also systemisiert war und diese unter staatlicher Kontrolle standen. Die Notariatsarchive und damit auch die Notariatskammern waren demnach keine Einrichtung des Notariats, sondern eine Staatsbehörde, deren Beamte dementsprechend von der Regierung ernannt und vom Staat besoldet wurden. In Entsprechung der Rechtslage waren die Notariatskammern gemäß § 136 der Notariatsordnung zwar dazu „berufen, „… die erforderlichen Anträge… zu zweckmäßigen Änderungen in dem Organismus des Notariats…. zu stellen“, da sie aber insbesondere seit der Notariatsordnung 1855 aufgrund der engen personellen Anbindung ihrer Leitungsfunktionäre an die Gerichtshöfe erster Instanz, weitgehend fremdbestimmt waren, sind entsprechende Initiativen auch in den Jahren nach 1860 nur selten festzustellen. Es waren zwar etliche maßgeblichen „Vordenker“ und Organisation des Notarenstands in der Wiener Kammer vertreten, ihr Einfluss war aber in erster Linie auf ihre Führungspositionen zurückzuführen, die sie in den Notarenvereinen in Personalunion mit ihren Kammerfunktionen ausgeübt haben. 10
Eine Ausnahme davon bildete die Wiener Notariatskammer, welche auch als die treibende Kraft der seit 1861 im Gang gesetzten Selbstorganisation des Notarenstands angesehen werden kann. Darüber hinaus gab es, durch die enge Anbindung an die Gerichtshöfe erster Instanz, in den einzelnen Kronländern eine Vielzahl von Notariatskammern. Diese Aufteilung erschwerte naturgemäß die Herausbildung von standespolitischen Zielen und deren Durchsetzung im Rahmen einer einheitlichen Organisation und Vertretung. Anträge auf Änderung dieses Umstands blieben auf Einzelaktionen beschränkt. Die Zwitterstellung der Notariatskammern einerseits als staatliche Behörden und Verwalter der Notariatsarchive und andererseits als Wahrer des Standeswohls, führte dazu, dass das Wohl des Staates dem Standeswohl vorangestellt wurde. So forderte etwa die Notariatskammer Wien 1861, solange die neue Gerichtsverfassung noch nicht feststand, einen Besetzungsstopp, um mit diesen vakanten Notarstellen die Versorgung der aus Transleithanien, den ungarischen Landesteilen, zurückströmenden Justizfunktionären sicherzustellen. Erst als in den Jahren 1861 und 1862, also um die Zeit des Berufseintritts von Roncali, die Versuche der Notare größere gemeinsame Landesnotariatskammern in Niederösterreich und der Steiermark zu bilden, gescheitert waren, begannen einzelne Notarkollegien, ihre Interessenvertretungen als privatrechtliche Körperschaften mit gewähltem Vorstand und „Büro“ zu organisieren. Dies erfolgte im Verlauf des Jahres 1862 im Sprengel des Landesgerichts Wien sowie der Kreisgerichte Sankt Pölten und Krems, jeweils am Sitz der Notariatskammern und im Sprengel des Kreisgerichtes Korneuburg mit dem Sitz in Stockerau, sowie im Jahr 1863 im Sprengel des Landesgerichts Graz am Sitz der Notariatskammer. Diese Vereine wurden jeweils ohne Bestätigung ihrer Zulässigkeit durch die für das Notariat bestehenden Aufsichtsorgane, also der Gerichte oder des Justizministeriums errichtet, da diese von der Annahme ausgingen, dass von diesen, als „nicht amtliche Vereine“ bezeichneten Einrichtungen, ohnehin kein Einfluss auf die Tätigkeit der Notariatskammern genommen werden könne. Die standespolitischen Anstöße, die von den Notariatskammern, bzw. Notarenkollegien ausgingen, blieben, im Gegensatz zu den Aktivitäten der neuen Notarenvereine, auf einzelne Aktionen beschränkt, betrafen Petitionen und Denkschriften an das Justizministerium und Gerichtspräsidien, die zumeist wirkungslos blieben. 11 Die Notarenvereine gewannen hingegen an Bedeutung, weil durch sie ein gemeinsamer Standeswillen und Standesbewusstsein artikuliert werden konnte. Die Idee einer gemeinsamen Standesvertretung, die Roncali später durch die Schaffung eines gesamtösterreichischen Notarenvereins aufgriff, war geboren!
Daher sind in den Jahren nach 1860 immer häufiger Intentionen zur Selbstorganisation des Standes der Notare zu konstatieren. Dies geschah, wie oben erwähnt, ohne Einvernehmen mit den gerichtlichen Aufsichtsorganen oder dem Justizministerium. Ausgangspunkt hierfür war Ende März 1862 die Entscheidung der Notariatskammer St. Pölten zur Gründung eines Notarenvereins für ganz Niederösterreich mit dem Sitz in Wien, zur Wahrung der Standesinteressen und zur Förderung der wissenschaftlichen Fortbildung der Standesangehörigen. Dem schlossen sich alle weiteren vier n.ö. Kammern an. Im März 1865 erfolgte die Umwandlung des n.ö. Notarenvereins in den „Verein der Notare von Österreich ob und unter der Enns, dann Salzburg“. Roncali lag der Ausbau der Standesautonomie und die Selbstorganisation des Notariats besonders am Herzen. Bereits als junger Notariatskandidat mit Familie erlebte Roncali mit Sorge, wie sämtliche Bemühungen scheiterten, die vorgenannte, dem Justizminister erteilte und als vorübergehend gedachte Ermächtigung einzuschränken, aus anderen Landesteilen der Monarchie zurückkehrende („disponibel“ gewordene 11 Justizbeamte im Notariat unterzubringen und diesem dadurch zu ermöglichen von sich aus Notarstellen, unter Dispens von der in der Notariatsordnung normierten Voraussetzung zu besetzen. Die Folgen waren überlange Wartezeiten für standesintern ausgebildete Notariatskandidaten und zumeist schlechte notarielle Rechtsdienstleistungen. Um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, erwies sich eine Petition der Notariatskandidaten aus Wien und Umgebung an den damaligen Justizminister und Gegner des Notariats, Freiherr Emanuel Heinrich Komers als wirkungslos, und selbst der Empfang einer Deputation von Notariatskandidaten unter Führung von Dr. Anton Swoboda beim Kaiser am 20. Dezember 1866 blieb ergebnislos.
Infolge des Regierungswechsels bewirkt durch den endlich erzielten Ausgleich mit Ungarn, war das damals sehr ungewisse Schicksal eines Fortbestands des Notariats zumindest vertagt. Roncali, der nach 1867 zu einem der federführenden Organisatoren des Notariats, vor allem als Funktionär des Notarenvereins und als Redakteur der Notariats-Zeitschrift wurde, hat sich mit der Situation des Notariats in seiner damals wohl bekanntesten und viel beachteten Fach- und Programmschrift zur Verteidigung des Notariats in Österreich, mit dem Titel „Notarenstand und Notariat in Österreich“ intensiv auseinandergesetzt.
Bereits im Jahre 1868 wurde Roncali, erst 28-jährig und noch Notariatskandidat, in den leitenden Ausschuss des Vereins der Notare von Österreich ob und unter der Enns, dann Salzburg, gewählt 12 Der Grund seiner Wahl lag vermutlich auch in der ein Jahr zuvor erfolgten Veröffentlichung des vorgenannten Fachbuches, das in Juristenkreisen und in der Presse große Aufmerksamkeit fand, und auf das in der Folge noch näher eingegangen werden wird.
5. Roncali und die Notariatszeitung
Die Grundvoraussetzung, dass Roncali seine dem damaligen Zeitgeist weit vorauseilenden Ideen publizistisch aufbereiten und erfolgreich verbreiten konnte, war vor allem dem Umstand zu verdanken, dass er bereits kurz nach seinem Eintritt in das Notariat, zunächst als Mitarbeiter und Autor zahlreicher Beiträge, ab 1868 dann als Mitredakteur und schließlich ab 1872 bis zu seinem Ableben, als alleiniger Redakteur der „Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich“ tätig gewesen war. Die überwiegende Anzahl seiner Beiträge erschien ohne Unterschrift oder unter der Chiffre „L.R.“, sie waren aber den Lesern unschwer an ihrem klaren Stil und ihren pointierten Aussagen erkennbar.
Die erste Ausgabe der Notariats-Zeitschrift erschien am 1. Juli 1859 unter folgendem Titel „Nro.1. Zeitschrift für das österreichische Notariat. Redacteur: Dr. Franz Groß, Herausgeber: Dr. C.E. Ritter von Kißling. Alle Zuschriften wollen an den Herausgeber zu Neumarkt bei Salzburg gerichtet werden. (Preis 2 fl ö. W. vom 1. Juli bis 31. Dezember 1859)“. Sie erschien in einem zweiwöchigen Turnus. Als Aufgabe dieser Blätter betrachteten die beiden Initiatoren, Dr. Ritter von Kißling 13, Notar in Neumarkt bei Salzburg, als Herausgeber und Dr. Groß 14, Notar in Wels, als Redakteur der Zeitschrift, wie sie am Beginn der ersten Ausgabe feststellten, „Mängel in der gesetzlichen Organisierung“ des Notariats, auf „Fehler in der Praxis“, soweit sie „Schuld am Fortschleppen des Institutes“ trugen, hinzuweisen und Anträge zu stellen, welche „im Interesse der Rechtspflege überhaupt und des Institutes insbesondere sind“, um die Ursachen, welche auf die Entwicklung des Notariats „hemmend und nachtheilig einwirken“, zu beseitigen. Bedingt durch den Übertritt von Herausgeber Dr. Kißling zur Advokatur in Schärding (OÖ) wurde die Notariats-Zeitschrift zunächst seit Ende 1861 von Dr. Franz Groß allein herausgegeben. Ab 1. Jänner 1862 übernahm die Herausgabe der Zeitschrift als deren verantwortlicher Redakteur, Notar Dr. Carl Edmund Langer 15, Notar in Wien-Innere Stadt. Er stellte bei der Übernahme der Zeitschrift fest, dass diese fortfahren werde „die Interessen des Notariats muthig zu verfechten“, die „Überstände offen dazulegen“ und „Übergriffe und Eingriffe“ in den Wirkungsbereich des Notariats „energisch zu bekämpfen“. Die ursprünglich auf den Kreis der Standesangehörigen beschränkte Berichterstattung sollte aber verbreitert und auf eine „größere Leserwelt“ erstreckt werden. Am 1. Juli 1863 erfolgte sodann die Übernahme durch den n.ö. Notarenverein, als dessen zweites Standbein neben der zu schaffenden Vereinsbibliothek. Notar Dr. Karl Reich 16, Notar in Wien-Landstraße, ein anderer bedeutender Vertreter des österreichischen Notariats, trat neben Dr. Langer der Redaktion bei. Zielsetzung der neuen Redaktion war, die Zeitschrift zu einem „Organ aller Standesgenossen“ zu machen und „freimüthig die Mängel in der gesetzlichen Organisierung des Institutes der Notare“ anzusprechen, obgleich wie kritisch festgestellt wurde „die Zeitschrift weit davon entfernt“ sei, den Rang eines „juridisch-wissenschaftlichen Blattes“ einzunehmen. Die Berichterstattung sollte dabei auch die Notarenvereine, den Unterstützungsverein für Advokaten, Notare, deren Hilfsarbeiter, ihre Witwen und Waisen und das „Vereinsleben der Notare des Auslandes“ sowie auch Mitteilungen aus dem Kreis der „Notariats-Concipienten“ berücksichtigen. Diese Themen standen im Fokus der Interessen von Roncali. Er war als Notariatskandidat und profunder Kenner des ausländischen Notariatsrechtes bereits ständiger Mitarbeiter der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“, als diese noch von den Notaren Dr. Karl Reich und Dr. Carl Edmund Langer herausgegeben wurde. Sie war Vorläuferin der „Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit“, welchen Titel sie ab 1868 führte. Als Dr. Karl Reich, der erst im Jänner 1868 die Zeitschrift als Herausgeber und alleiniger Redakteur übernommen hatte, im Sommer 1868 viel zu früh und unerwartet verstarb, wurden nach einem kurzfristigen Redaktionsintermezzo unter Notar Alois Fuka, Notar in Dobersberg, Niederösterreich, die Herausgabe der Zeitung und die redaktionelle Verantwortung wiederum durch den n.ö. Notarenverein übernommen.
Der Fortbestand der Notariats-Zeitschrift wurde in Anbetracht der bevorstehenden Reformen als „unerläßliche Nothwendigkeit“ erachtet und diese Zeitschrift daher wiederum in das Eigentum des Notarenvereins übernommen. 17 Dabei wurden die Schriftleitung ab der Ausgabe Nummer 43/1868, auf Roncali und Dr. Josef Löw 18, welche beide damals noch Notariatskandidaten waren, gemeinsam übertragen. Roncali erkannte sehr früh, vermutlich bereits 1861, bei seinem Eintritt in den Berufsstand als 21-jähriger Notariatskandidat bei seinem ersten Ausbildungsnotar Ludwig Breinreich 19, in Laa an der Thaya, einem von ihrer Gründung 1859 bis zum Jahr 1875, ständigen Mitarbeiter der Notariatszeitung, die große Bedeutung einer gemeinsamen Standeszeitung als Sprachrohr nach außen und Diskussionsplattform und Ideenschmiede nach innen. Die dortige Anstellung Roncalis war zwar nur von kurzer Dauer, aber offenbar ein fruchtbarer Boden zur Weckung des Interesses des jungen Roncali an den vielen damals zur Lösung anstehenden Problemen des noch jungen Notarenstands in Österreich und deren publizistischer Bearbeitung in einer Fachzeitschrift. Leone Roncali war – so wird er von seinen Zeitgenossen und Berufskollegen beschrieben – bei der literarischen und publizistischen Tätigkeit in seinem Element. Von seiner Jugend bis zu seinem Lebensende war er ein publizistischer Kämpfer, dem in der intellektuellen Auseinandersetzung das Herz aufging. Als ständiger Mitarbeiter der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“, damals noch von Dr. Karl Reich 20, herausgegeben, fand er in diesem einen einmaligen Lehrmeister in den überaus herausfordernden Zeiten seines Berufsstandes. Die im Jahre 1868 von Dr. Leone Roncali, noch als Notariatskandidat, gemeinsam mit Notar Dr. Josef Löw 21, der wenige Monate später zum Notar in Wien-Innere Stadt ernannt wurde, übertragene Redaktion der Notariatszeitschrift endete mit dem Jahr 1871. Ab 1. Jänner 1872, bis zu seinem Ableben war Roncali alleiniger Redakteur dieser Zeitschrift. 22
Dr. Leone Roncali, nach wie vor Notariatskandidat, bis zu seiner Ernennung zum Notar mit 19. Mai 1872 ergriff in dieser Position nun die Möglichkeit, sich zielbewusst und energisch für die Aufgaben und Ziele einzusetzen, deren Verwirklichung er sich zum Wohle des österreichischen Notariats gesetzt hatte. Er hatte das Ziel der notariellen Tätigkeit eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, ihre Aufgaben zu verbreiten, deren Selbstverwaltung zu fördern und Ansehen zu heben. Dabei kam ihm seine genaue Kenntnis der Organisation und Aufgaben zu Hilfe, die das Notariat als Rechtsdienstleister in anderen europäischen Staaten hatte und bestens erfüllte, um diese seinen Standesgenossen vermitteln zu können. Mit Vorliebe beschäftigte sich Roncali daher mit verwandten Einrichtungen des Notariats in anderen Staaten. 23 Mit dem Eintritt Roncalis in die Redaktion der Notariats-Zeitschrift vermehrten sich daher in ihren Ausgaben – zumeist aus seiner Feder stammend – Beiträge, welche über die Situation des Notariats in anderen europäischen Staaten berichteten. So konnten sich die Leser ein umfassendes Bild über die Situation des Notariats im Ausland, wie etwa in Frankreich, Bayern, Preußen, Baden, Sachsen und vielen anderen Ländern machen.
Mit oder ohne Chiffre veröffentlichte Roncali unzählige Beiträge in der Notariats-Zeitschrift, die sein unermüdliches Bestreben belegen, das Wohl und die Entwicklung des Notariats zu fördern. Kaum ein das Notariat betreffendes Thema blieb dabei unberücksichtigt. Roncali nützte dabei jede Gelegenheit, seine Standesmitglieder mit aktuellen Problemen ihres Berufsstands zu konfrontieren, Lösungen aufzuzeigen und seine Leser dazu „mitzunehmen“, wie etwa den personellen Schwierigkeiten des Notariats in Nordtirol („Ein Nothschrei aus Nordtirol“, NZ 1873, S 150f.) oder zum Verhältnis mit der Anwaltschaft („Die Vereinigung des Notariates mit der Advocatie auf dem Lande“, NZ 1875, 203 ff.) und viele andere Themen. Das vermittelte seinen Kollegen Mut und Entschlossenheit die gerechtfertigten Anliegen des Notariats mit Energie weiter zu vertreten. Im Besonderen trifft dies auf die im Folgenden darzustellende Konstituierung des Österreichischen Notarenvereins und des Pensionsinstitutes zu. Roncali blieb in seinen Beiträgen stets Realist. So stellte er schon nach Beginn seiner Redaktionstätigkeit 1868 in seinem Jahresrückblick zu diesem Jahr fest, dass dieses bezüglich einer Lösung der „Notariatsfrage“ nur „nicht erfüllte Hoffnungen“, gebracht habe und er äußerte, in Anspielung auf die Pläne, die Tätigkeit der Notare auf andere Institutionen beziehungsweise Personen zu übertragen, sein Unverständnis, dass man „statt eine nöthige Berufsreform durchzuführen“, diese Frage dazu nützen wolle, eine „radicale Umgestaltung und legislatorischen Kaiserschnitte“ herbeizuführen. 24
Seit seinem Eintritt in der Redaktion und inhaltlichen Gestaltung der Notariats-Zeitschrift nützte Roncali, jeweils zum Jahresbeginn, die Gelegenheit für einen jährlichen kritischen Rückblick und programmatischen Ausblick. Damit gab er dem gesamten Berufsstand einen Einblick in die organisatorische Weiterentwicklung des Notariats und den laufenden Stand der endlich in Schwung geratenen Beratungen über die Schaffung einer neuen Notariatsordnung und vermittelte damit auch Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft. 25
Seine Kenntnisse, besonders des italienischen und des deutschen Rechtes, welche er sich während seiner Studien angeeignet hatte, verbunden mit der langen Tradition, die das Notariat in Italien, seinem Vaterland, hatte, schufen in ihm das Bewusstsein über die Bedeutung eines funktionierenden Beurkundungsinstituts für das Rechtsleben eines modernen Rechtsstaates. Daraus resultierend kam seine Sorge und sein dringendes Bemühen, um die Festigung des Notariats in Österreich. Ein Zitat Roncalis dazu ist durch die Erzählung von Dr. Franz Mayrhofer, der vom 1. November 1886 bis zu dessen Ableben Notariatskandidat bei Dr. Leone Roncali war, erhalten geblieben, dem gegenüber Roncali erklärt haben soll: „Die Förderung und Hebung des Notariats ist unablässige Sorge meiner Tage und Traum meiner Nächte“. Mayrhofer zufolge waren auch nicht alle Standeskollegen mit dem rastlosen Reformgeist Roncalis einverstanden und brachten ihm nicht immer „die verdiente Würdigung seiner Bemühungen entgegen“. Was für Mayrhofer ein Beweis war, wie weit Roncali mit seinen Bestrebungen, die von seinem universellen Wissen getragen waren, seinen Standesgenossen voraus war. 26
Unbestritten ist, dass unter der 21 Jahre andauernden redaktionellen Führung von Roncali die Notariats-Zeitschrift nicht nur sichere Einnahmen erzielen, sondern auch einen anerkannten Platz im Notariat und im Rechtsleben Österreichs erlangen und bewahren konnte. Nach dem Tod Roncalis substituierte Dr. Franz Mayrhofer 27 die verwaiste Amtsstelle bis zum 1. Dezember 1890 und wurde dann von dessen Amtsnachfolger Notar Heinrich Giriczek als Substitut übernommen. Mayrhofer fand in Roncali einen einmaligen Lehrmeister und ein großes Vorbild als Leiter und Organisator des Notariats. Noch zu Lebzeiten Roncalis, dem die Anliegen und die berufliche Situation der Notariatskandidaten stets Herzensangelegenheit waren, wurde er 1888 zum Initiator und Gründer des Notariatskandidatenvereins in Wien und 1889 nach dem Tod Roncalis, wie sein Vorbild noch als Notariatskandidat, dessen Nachfolger in der Redaktion der Notariats-Zeitschrift. Ab 1899 zum Präsidenten des Österreichischen Notarenvereins und im selben Jahr zum, zeitlich fünften, Präsidenten der n.ö. Notariatskammer gewählt, war er ein würdiger Nachfolger Roncalis. Mayrhofer war von 1894 bis 1919, Notar in Wien- Innere Stadt, Amtsstelle XXV.
6. Roncali als Fachschriftsteller
Roncali war bei der literarischen und publizistischen Tätigkeit in seinem Element. „Ihr oblag er seit den ersten Anfängen seiner Universitätsstudien bis zu seinem Tode. Im publizistischen Kampf ging ihm sein Herz auf“, so schreibt sein langjähriger Substitut, Dr. Karl Mayrhofer, in dem von ihm verfassten Nachruf in der Notariats-Zeitschrift vom 13. November 1889. 28 Schon im jugendlichen Alter veröffentlichte Roncali unter anderem eine Abhandlung „Über die Reform der Erwerbung des Eigenthumes an unbeweglichen Gütern im lombardisch-venetianischen Königsreiche“. Sein analytischer Geist und sein Mut sowie seine Unbeirrbarkeit, Missstände beim Namen zu nennen, zeigt sich insbesondere bei seiner bereits 1867 im Alter von 27 Jahren veröffentlichten Arbeit „Notarstand und das Notariat in Österreich“, in der er unverblümt mit den damaligen Gegnern des Notariats abrechnete, die er in jenen Personenkreisen sah, die durch die Einführung des Notariats 1850 Einfluss verloren und materielle Nachteile erfahren hatten. Diese kämen insbesondere von Herrschaftsbeamten, Adeligen und Großgrundbesitzern, Privat- und Gemeindebeamten, Advokaten und Winkelschreibern, allesamt „Bürokraten und Reaktionäre…die alle Einrichtungen, die 1848 ihren Ursprung hatten,…als missliebig betrachten“. Weiters „Die Art und Weise der Amtshandlung des Notars, seine separate Kanzlei, sein Amtssiegel“ musste „die Ansicht bestätigen, dass das Notariat ein Kind der Revolution sei“. Er setzte sich darin ausführlich mit den Vorschlägen der Gegner des Notariats auseinander, die die Zuweisung der Notariatsfunktionen an die Gerichte, an Friedensrichter oder Gemeinden betrieben, oder deren Übertragung an die Advokatur befürworteten; abschließend unterbreitete er Vorschläge für die Weiterentwicklung des Notariats. 29
Dieses Buch fand auch über die Fachpresse hinaus ein lebhaftes Echo. So schrieb etwa der Redakteur des Kremser Wochenblattes vom 11. September 1867: „Der Herr Verfasser, Leone Roncali, Notariats-Conzipient in Wien, hat unseren Erwartungen entsprochen und in seinem soeben erschienenen Büchlein „Notarenstand und Notariat in Österreich“ mit sachkundiger und gewandter Feder, die Angriffe der Notariatsgegner widerlegt und als solche vornehmlich die Aristokraten, Bürokraten und Schwarzen bezeichnet. Die offenen und geheimen Angriffe dieser Rückschrittspartei gehen dahin, durch Beseitigung des Notariates den vormärzlichen Einfluss auf die Rechtspflege wieder zu erlangen und mit diesem die verlorene politische Ausnahmestellung wieder zu gewinnen. Jene gute, alte Zeit, in welcher es keine Volksrechte, sondern nur Pflichten gab, sollte unter der Maske einer wohlfeilen Rechtspflege durch gaugräfliche Friedensgerichte wieder eingeführt werden. Der Herr Verfasser hat unter Hinweis auf solche Bestrebungen, die für die Fortentwicklung freiheitlicher Zustände wichtige Seite des Notariats mit überzeugender Wärme behandelt, so dass wir, abgesehen von der Wichtigkeit des Notariats, in der Gliederung einer gesunden Rechtspflege, schon von diesem Standpunkte aus, den Fortbestand des Notariates aufrichtig wünschen. Zum Schluss sei kurz erwähnt, dass der Herr Verfasser nicht allein die Gründe der Notariatsgegner schlagend widerlegt, sondern auch der Reform des Notariats beredte Worte leiht, die bezirksämtliche Abhängigkeit verwirft und einen scharf abgegrenzten vom Gesetz bestimmten Wirkungskreis fordert, so dass wir dieses Büchlein, nicht bloß den Standesgenossen des Herrn Verfassers, sondern zum Verständnis der politischen Seite des Notariates selbst Nichtjuristen auf das angelegentlichste empfehlen“. 30
Neben den zahlreichen, ihm während seines Wirkens als Notar übertragenen Standesfunktionen entfaltete Roncali – neben seiner Arbeit für die Notariats-Zeitschrift – eine umfangreiche fachliterarische Tätigkeit, bei der er sich auch mit der Situation und den rechtlichen Entwicklungen im internationalen Notariatswesen, wie etwa über das Notariat in Holland, Spanien, Portugal, Russland, dann Studien über das Notariat in den einzelnen Schweizer Kantonen, u.v.m., aber auch kontinentübergreifend in Peru und Mexiko auseinandersetzte. Hierbei kam ihm zugute, dass er ein außergewöhnliches Sprachtalent besaß und die meisten romanischen Sprachen in Wort und Schrift hervorragend beherrschte. Das ermöglichte ihm nicht nur als gefragter Dolmetscher für die italienische Sprache, sondern auch als Übersetzer der italienischen Rechtsliteratur ins Deutsche sowie als Kontrollredakteur der italienischen Ausgabe des Reichsgesetzblattes tätig zu sein. Auch die damals in das Berufsleben eintretenden neuen technische Entwicklungen, wie der Telegraf und das Telefon, fanden sein Interesse und wurden von ihm im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die notarielle Tätigkeit fachliterarisch untersucht. Sein Beitrag in der Notariats-Zeitschrift 1881 über das Telefon und dessen Auswirkungen auf die Tätigkeit der Notare fand auch in der Presse Aufmerksamkeit. 31 Da er sämtliche bedeutenden romanischen Sprachen wie Italienisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch in Wort und Schrift beherrschte, war er imstande, die reiche Fachliteratur dieser Nationen in den Kreis seiner Studien einzubeziehen. So veröffentlichte er bereits im Jahr 1863 eine Übersetzung des Werkes von Professor Serafini über den Telegrafen, und seine Beziehungen zum bürgerlichen und Handelsrecht. 32
Als weitere größere Arbeiten, an denen er sich versuchte, können etwa seine 1873 in Wien veröffentlichten „Beiträge zur Legalisierungsfrage in Österreich“ genannt werden. Er ist auch Verfasser, der im Jahre 1885 als Denkschrift vom Österreichischen Notarenverein herausgegebenen Abhandlung über eine Reform des Aufsichts- und Disziplinarwesens in Ansehung der Notare, eines glänzenden Plädoyers gegen die für die Disziplinarbehandlung der Notare und Notariatskandidaten damals bestehenden gesetzlichen Bestimmungen. Bemerkenswert ist auch seine Abhandlung „Die Notariatscaution nach der österreichischen Notariatsordnung vom 25. Juli 1871“, die er noch als Notariatskandidat in mehreren Ausgaben in der Notariats-Zeitschrift des Jahres 1871 veröffentlichte. Durch seine literarische Tätigkeit gelang es ihm, früh in Funktionen zu gelangen, in denen er maßgeblich in alle Standesangelegenheiten eingreifen konnte. So entstanden die erwähnten Monographien und Broschüren. Dabei kam ihm seine literarische Begabung, gepaart mit einem scharfsinnigen und analytischen Verstand, zu Hilfe, die bereits bei seiner frühen Ernennung zum Notar berücksichtigt und gewürdigt worden war. Mehrere veröffentlichte Übersetzungen aus dem Italienischen runden seinen rastlosen Arbeitseifer ab. Hervorzuheben sind insbesondere die Übersetzung der Italienischen Notariatsordnung samt Anhang, die Übersetzung der Geschichte des italienischen Völkerrechts und das Gesetzbuch des Königreichs Italien (Übersetzung aus dem Italienischen, Wien 1885).
Weitere Veröffentlichungen Roncalis waren „Das Notariat in Holland und seine Reform“, Wien 1884, (Besprechung in der Allg. Juristen-Zeitung 1884, S. 212), „Das Notariat in Portugal“, Wien 1887, „Das Notariat in der Schweiz“, (NZ 1881, Nr. 34 ff.) und zahlreiche weitere Fachartikel zum ausländischen Notarrecht in der Notariats-Zeitschrift der Jahrgänge 1867 bis 1889. 33 Für all diese Arbeiten hatte sich Roncali im Laufe der Zeit eine umfangreiche Bibliothek angelegt, die fast die gesamte das Notariat betreffende Literatur umfasste und als solche einmalig war. Diese reichhaltige und wertvolle Bibliothek vermachte er in seinem Testament vom 28.12.1887 dem Österreichischen Notarenverein, dem auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet wurde, eine eigene Vereinsbibliothek zu schaffen. 34
7. Roncali und die Notarenvereine
Vom Wunschbild eines unabhängigen Notariats war man in den 1860er-Jahren, den ersten Berufsjahren Roncalis, weiter entfernt als je zuvor. Viele Notare beschäftigten sich nach der Aufhebung des Notariatszwangs durch die Notariatsordnung von 1855 mit allen anderen Tätigkeiten als mit notariellen Amtshandlungen. Der Schwerpunkt lag in der Errichtung von Privaturkunden. Spätestens ab 1869, nach Freigabe der Advokatur, wurde auch hier die Konkurrenz größer und aggressiver. Die wirtschaftliche Lage des Notariats war angespannt. 35
Wie bereits oben erwähnt, wurde Roncali 1868, damals erst 28-jähriger Notariatskandidat, in den leitenden Ausschuss des Vereins der Notare von Österreich ob und unter der Enns sowie Salzburg, gewählt. Dies war für ihn bedeutsam, weil dieser Notarenverein im Zuge der einsetzenden Bemühungen um die Reform des Notariatsinstituts zur Ideenschmiede für den gesamten Notarenstand wurde. Im Hinblick auf die erst in Ansätzen verwirklichte Organisation autonomer Notariatskammern wurden die Reformbemühungen der Notare zunächst in Beiträgen in der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“ artikuliert. Gemeinsam ist diesen Publikationen, dass ihre Verfasser allesamt dem Kreis der Mitglieder beziehungsweise Funktionäre des 1863 zunächst für Niederösterreich ins Leben gerufenen und 1865 auf Oberösterreich und Salzburg erstreckten Notarenvereins zuzuordnen sind. 36
Das Bedürfnis, berufs- und standesrechtliche Interessen auf privatrechtlicher Grundlage zu verwirklichen, fand für das Notariat zunächst in deutschen Vorbildern wie im „Verein für das Notariat“ in Rheinpreußen ab 1856 und im „Württembergischen Notarenverein“ ab 1860, seinen Niederschlag. Im österreichischen Notariat setzte sich diese Idee erst 1862 mit der Gründung des n.ö. Notarenvereins durch, nachdem ein Jahr zuvor eine Initiative zur Vereinigung der fünf niederösterreichischen Notariatskammern zu einer gemeinsamen Kammer vom Justizminister abgelehnt worden war.
Die Initiative zur Gründung eines Notarenvereins für ganz Niederösterreich ging im März 1862 von der Notariatskammer St. Pölten aus und führte nach einer ziemlich langen Gründungsphase Ende 1863 zur Errichtung dieses Vereins. 37 Im Proponentenkomitee waren mit den Notaren Lötsch, Langer und Reich drei herausragende Standesvertreter präsent. Dr. Carl Lötsch 38 war Notar in Atzenbrugg und Mitglied der Notariatskammer Sankt Pölten, und die beiden Wiener Stadtnotare, Dr. Karl Edmund Langer und Dr. Karl Reich, waren Herausgeber der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“. Langer war zudem auch Präsident des Wiener Notarkollegiums. Als Mittel zur Erreichung der Vereinszwecke waren regelmäßige gemeinsame Besprechungen der Mitglieder über fachwissenschaftliche und praktische Fragen des Berufs- und Standesrechts vorgesehen, ferner die Einrichtung einer Vereinsbibliothek und die Übernahme der „Zeitschrift für das österreichische Notariat“ in das Eigentum des Vereins. Der niederösterreichische Notarenverein beruhte auf dem Grundsatz der offenen Mitgliedschaft. Für die Aufnahme in den Verein war „Unbescholtenheit des Charakters“ und die Zustimmung der Generalversammlung erforderlich. Die Mitgliedschaft im Verein als Ehrenmitglied stand allen Notaren und Notariatspraktikanten aller Kronländer, aber auch anderen Personen offen, die sich für den Notarenstand verdient gemacht haben. Die ordentliche Mitgliedschaft war nur jenen Personen möglich, die im Verzeichnis einer niederösterreichischen Notariatskammer eingetragen waren; dies geschah nach Entscheidung durch den Vereinsausschuss. Sämtliche Mitglieder waren gleich stimmberechtigt; die Ehrenmitglieder waren jedoch bei Abstimmungen und Beratungen über rein persönliche Angelegenheiten von Notaren ausgeschlossen. Für die Leitung und als Verwaltungsorgan des Vereins war ein zehnköpfiger Ausschuss vorgesehen, aus dessen Mitte als erster Vorstand Doktor Karl Edmund Langer 39, Notar in Wien-Innere Stadt, gewählt wurde. Sämtliche Ausschussmitglieder mussten ihren Wohnsitz in Wien haben, um die laufenden Vereinsgeschäfte – insbesondere die zumindest einmal im Monat stattfindenden Zusammenkünfte – besser wahrnehmen zu können. Durch diese, wie oben beschriebene, für alle Standesmitglieder offene Vereinsstruktur war es Roncali möglich, bereits als junger 28-jähriger Notariatskandidat in den leitenden Ausschuss dieses Vereins aufgenommen zu werden. 40
Die Ausdehnung des n.ö. Notarenvereins auf den gesamten Sprengel des Oberlandesgerichts Wien erfolgte im September 1865. Der n.ö. Notarenverein erweiterte ebenfalls 1865 seine Tätigkeit auf Oberösterreich und Salzburg. In vielen Fällen stand die Vereinsleitung auch mit den Funktionären in den Notariatskollegien in Verbindung bzw. in Personalunion, sodass dadurch ermöglicht wurde, die in den Vereinsgremien abgehaltenen Diskussionen auch in den gesetzlichen Standesvertretungen zu thematisieren. Zur Erreichung des Vereinszwecks wurde in der a. o. Generalversammlung des Vereins am 3. Oktober 1868 beschlossen, auf Grund eines diesbezüglichen Angebots der Witwe des verstorbenen Redakteurs Notar Dr. Karl Reich, die Notariats-Zeitschrift in das Eigentum des Notarenvereins zu übernehmen und die beiden Notariatskandidaten Dr. Josef Löw, ab 1869 Notar in Wien-Innere Stadt, und Dr. Leone Roncali, ab der Ausgabe Nr. 43, zu Redakteuren zu bestellen. Damit wurde dem größten und einflussreichsten Notarenverein das wichtigste Publikationsorgan des Standes übertragen, und der Vereinsbeitrag, der den Bezug der Zeitschrift einschloss auf 12 fl für Notare und 6 fl für Notariatskandidaten (heute ca. € 200 bzw. € 100) erhöht. 41
Diese durch die Notare des OLG-Sprengels Wien erfolgreich vorgetragene Selbstorganisation des Notariats fand Nachfolger, sodass 1867 der Verein der Notare Böhmens sowie 1869 zwei weitere Notarenvereine für Mähren und Schlesien bzw. für die Steiermark, Kärnten und Krain errichtet wurden. Allerdings blieben die Mitgliedszahlen zunächst etwas hinter den Erwartungen zurück, was den Wegdistanzen und manchmal, namentlich in Böhmen, Nationalitätenzwistigkeiten geschuldet war. In allen Landesteilen der Monarchie konnte dennoch eine Repräsentanz von mindestens 2/3 bis 3/4 der Standesmitglieder erreicht werden.
Die Bedeutung dieser Vereine wurde auch im Justizministerium erkannt, das, entgegen den bisherigen Gepflogenheiten, begann, auch die Notarenvereine in seine das Notariat betreffende Rechtsvorhaben miteinzubeziehen. 42 Dies umso mehr, als die mangelnde Funktionsfähigkeit der gesetzlich organisierten Notariatskammern als Vertretung des Standes nach außen auch vom Justizminister erkannt wurde, indem er den im Justizministerium ausgearbeiteten Entwurf einer neuen Notariatsordnung, den sogenannten „Referenten-Entwurf“, nicht nur den Notariatskammern, sondern auch den Notarenvereinen „unmittelbar zur Begutachtung mitgetheilt“ hatte. Angesichts der erfolgreich verlaufenden Selbstorganisation des Notarenstandes in privatrechtlichen Vereinen schien die Zielsetzung, die bestehenden Organisationen zu einem Notarverein zusammenzuschließen, der das gesamte Geltungsgebiet der Notariatsordnung umfasst, der nächste logische Schritt zu sein. Ein gesamtösterreichischer Notarenverein sollte dabei als Sprachrohr „der öffentlichen Meinung des Standes“ der „Gesamtheit der Standesgenossen“ auftreten und die „Gestaltung des österreichischen Notariatsinstituts übernehmen“, während den Kammern die Aufgabe zufiele, „den Überzeugungen und Wünschen“ des Notarenstands durch entsprechende Anträge an den Gesetzgeber „Geltung zu verschaffen“. 43
Die nächste Aufgabe, die sich Roncali setzte, war daher, die bestehenden zahlreichen regionalen Vereinsorganisationen unter einen im gesamten Geltungsgebiet der Notariatsordnung wirkenden Österreichischen Notarenverein zusammenzuschließen, mit dem Auftrag, nach erfolgter Auflösung der regionalen Notarenvereine allein die weitere Gestaltung des österreichischen Notariatsinstituts zu übernehmen, „um auf die Legislative jenen Einfluss nehmen zu können, welcher trotz der klaren Vorschrift der Notariatsordnung vom Jahre 1871 über den Wirkungskreis der Notaren-Collegien dem Stande nicht gewährt wird“. 44 Wie bereits oben erwähnt, besaß Roncali nicht nur eine außergewöhnliche schriftstellerische Begabung, sondern war auch als glänzender Redner mit großer Überzeugungskraft bekannt. Im Gegensatz zu Lötsch, der als „Vordenker“ die theoretischen Grundlagen für die Fortentwicklung des Notariatsinstituts legte, war Roncali ein „Mann der zielbewussten Tat“, der daran ging, seine standespolitischen Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen. Er erkannte die Notwendigkeit, dem österreichischen Notarenstand zunächst eine wirksame gemeinsame Vertretung nach außen zu geben.
Im Oktober 1879 fasste ein Delegiertentag, an dem 23 Notariatskammern der Monarchie teilnahmen, den Beschluss, ein Zentralorgan der österreichischen Notare zu gründen. Dem Vorbereitungskomitee gehörten für Wien Dr. Leone Roncali und Dr. Carl Lötsch an 45 . Nach längeren Vorarbeiten konstituierte sich schließlich am 28. September 1881 in Prag, im Carolinum der Prager Universität, unter dem per acclamationem bestimmten Vorsitz von Leone Roncali der Österreichische Notarenverein, dem bis dahin 860 Mitglieder beigetreten waren. Die Statuten des Vereins sahen insbesondere zur Leitung eine Zentraldeputation in Wien und zur internen Willensbildung Ausschüsse in den Oberlandesgerichtssprengeln vor. Roncali wurde in die Zentraldeputation gewählt und am 28. November 1881 von dieser zum ersten Vereinspräsidenten berufen. 46 Zuvor beschloss bereits der „Verein der Notare ob und unter der Enns und dann Salzburg“ am 29. Juni 1881, seine Auflösung mit 31. Dezember 1881.
Der Mitgliedsbeitrag wird, einschließlich des Bezugs der Notariats-Zeitschrift, mit 10 fl für Notare und 5 fl für Notariatskandidaten (ca. € 156 /€ 78) festgesetzt. 47 Roncalis außergewöhnliche kommunikative und organisatorische Fähigkeiten blieben auch international nicht unberücksichtigt, sodass er nach seiner am 1. Mai 1872 erfolgten Ernennung zum Notar, in der 2. Generalversammlung des Notariatsvereins für Deutschland und Österreich am 29. August 1872 in Frankfurt am Main, zum Vorstandsmitglied dieses Vereins berufen wurde.
Der Notariatsverein für Deutschland und Österreich erhielt seinen Gründungsimpuls durch den 1860 ins Leben gerufenen Deutschen Juristentag, der sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die Rechtssysteme innerhalb der Länder des Deutschen Bundes zu vereinheitlichen. Dazu zählten auch der Wunsch nach einer gemeinsamen Notariatsordnung, eines allgemeinen Obligationenrechts, einer einheitlichen Grundbuchordnung und eines gemeinsamen Zivilprozessrechts sowie eine Vereinheitlichung der Wirkung öffentlicher Urkunden über Rechtsgeschäfte. Die Idee der Rechtsvereinheitlichung wurde bereits 1867 durch die Denkschrift des Wiener Notarenvereins „Das Notariat als notwendige Rechtsanstalt“, beflügelt, in welcher die Reformvorschläge der beiden „Vordenker“ Alois Fuka und Leone Roncali, beide damals noch Notariatskandidaten, ihren Niederschlag gefunden hatten, und die auch in den Kreisen des Deutschen Juristentags auf Aufmerksamkeit stießen.
8. Roncali und das Pensionsinstitut des Österreichischen Notarenvereins
Mit dem Drang nach Mitbestimmung und Selbstorganisation in Bezug auf Berufs- und Standesrecht ging das Bedürfnis nach sozialer Absicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit beziehungsweise zur Versorgung der Hinterbliebenen einher. Auch hier reifte die Idee heran, privatrechtlich organisierten Versicherungsvereine bzw. Unterstützungsvereine gemäß dem Vereinsgesetz 1852 einzurichten. Bereits im Jahre 1858 wurde zunächst in Prag die „Witwen- und Waisensozietät der Notare Böhmens“ und 1861 in Wien der „Unterstützungsverein für Advokaten, Notare, deren Hilfsarbeiter, Witwen und Waisen“ errichtet. Dieser Verein wurde von Karl Ritter von Kießling 48 , bis 1861 Notar in Neumarkt bei Salzburg, ins Leben gerufen, im selben Jahr unmittelbar nachdem er in die Advokatur übergetreten war. Er hatte seinen Sitz zunächst in Linz und ab 1867 in Wien. Einer der Gründungsmitglieder des Unterstützungsvereins war auch der bereits oben erwähnte Notar Dr. Karl Reich. Der Verein wurde zunächst hauptsächlich von Notaren und Notariatskandidaten in Anspruch genommen.
Hier bestand bereits eine personelle Verbindung durch Notar Karl Edmund Langer 49, der als Vorstand des Notarenvereins auch dem Unterstützungsverein als Mitglied angehörte und dem 1867 Josef Löw 50, damals noch Notariatskandidat, als Vorstand dieses Vereins folgte. Eine Funktion, die er zehn Jahre lang, bis 1877, ausübte. Der Verein kämpfte seit seiner Gründung mit wirtschaftlichen Problemen, zunächst wegen der Mitgliederzahlen, die deutlich hinter den Erwartungen zurückblieben, und wegen der schlichten Ignoranz elementarer versicherungstechnischer Grundsätze, die zu optimistisch angesetzten Prämienrechnungen führten. Die Folge waren Leistungskürzungen und nicht leistbare Prämien, die oft zum Vereinsausschluss und zum Erlöschen des Leistungsanspruchs führten 51. 1867 und 1870 erfolgten Statutenänderungen, die die Attraktivität des Vereins steigern sollten, blieben jedoch ohne Erfolg. Auch Empfehlungen des Notarenvereins zur Förderung des Unterstützungsvereins brachten keinen Umschwung.
Im Jahre 1870 wurde Roncali in den Ausschuss des Unterstützungsvereins für Advokaten, Notare, deren Hilfsarbeiter, deren Witwen und Waisen gewählt. Auch seinen Bemühungen blieb der Erfolg versagt. Aber die Erfahrungen, die er bei seiner dortigen Tätigkeit schöpfen konnte, waren bedeutsam, weil er erkannte, dass nur eine entsprechend große Anzahl von Beitragszahlern, andauerndes Werben für die soziale Idee einer wirtschaftlichen Absicherung der Standesangehörigen im Notfall sowie ständiges persönliches Bemühen einem solchen Unternehmen zum Erfolg verhelfen können. Mehrere von Roncali verfasste Artikel in der Notariats-Zeitschrift belegen seine Bemühungen zu diesem Thema (dazu: „Zur Witwen- und Waisenversorgung der Notare und Notariatscandidaten“, NZ 1874, S. 80, dann „Für unser Pensionsinstitut!“, NZ 1882, S. 310f.; und „Unser Pensionsinstitut“, NZ 1883, S. 143f.).
Als die Generalversammlung des Pensionsinstitutes am 5. Dezember 1884 eine Fusionierung mit dem Unterstützungsverein abgelehnt hatte, erfolgte aufgrund dessen wirtschaftlichem Misserfolgs Anfang des Jahres 1886 dessen freiwillige Auflösung (dazu: Roncali, „Die Auflösung des Unterstützungsvereins“ NZ 1886, S. 89ff.). Sämtliche Mitglieder des Vereins traten zurück und wurden abgefertigt. Der Liquidationsüberschuss wurde dem Pensionsinstitut übertragen. Bestrebungen, ein alle Regionen übergreifendes Versorgungsinstitut für den Notarenstand zu schaffen, gab es in einzelnen Notarenkollegien schon bald nach dem Inkrafttreten der NO 1871. Im Jahre 1879 wurde auf dem Delegiertentag der österreichischen Notariatskammern auf die Dringlichkeit einer solchen Vorsorge hingewiesen. Als Roncali 1881 mit dem Österreichischen Notarenverein seine, nach Aussagen seiner Zeitgenossen, „glänzendste und schwierigste Schöpfung“ gelungen war – „um seinen Namen zu verewigen und für alle Zeiten ein dankbares Andenken zu sichern“ –, hatte er als dessen Präsident die Basis geschaffen, um sein Herzensprojekt zu verwirklichen: Die Gründung eines Pensionsinstituts des Notariats. Somit kam Bewegung in diese Bemühungen, denn die Statuten des Österreichischen Notarenvereins sahen die Einrichtung eines Versorgungsinstitutes vor. In der ersten Sitzung der Zentraldeputation des Österreichischen Notarenvereins wurde letztendlich auch sein zweites großes Vorhaben, die Schaffung einer Versorgungseinrichtung für Alter und Invalidität, durch die Einsetzung eines Vorbereitungskomitees in die Wege geleitet. Schon im gleichen Jahr wurde die Realisierung in Angriff genommen: Ein neu gebildetes Exekutivkomitee wurde mit der Erstellung der Statuten des Pensionsinstitutes betraut. Im Zuge der Ausarbeitung wurde gefordert, dass dem Pensionsfonds neben freiwilligen Beiträgen auch Einnahmen aus Disziplinarstrafen zufließen sollen und eine „Zuweisung“, also verpflichtende Einbeziehung sämtlicher Notare in dieses Institut, angestrebt werden sollte. Bereits im September 1882 wurde der Statutenentwurf des Exekutivkomitees der Zentraldeputation des Österreichischen Notarvereins zur Begutachtung vorgelegt und von dieser genehmigt. Am 21. Oktober 1882 beschloss die zweite Hauptversammlung des Notarvereins die Statuten des Pensionsinstitutes. Die festgestellten Statuten wurden sodann am 10. Jänner 1883 dem Innenministerium zur Genehmigung vorgelegt. Voraussetzung für die Genehmigung der Statuten war die Einrichtung eines Garantiefonds mit einer Einlage von 20.000 fl (heutiger Wert ca. € 317.000).
Dieser Fonds hatte die Aufgabe der finanziellen Absicherung der Pensionsinstitute, bis ein ausreichender Eigenkapitalstock aufgebaut worden war. Erst nachdem der Garantiefonds die erforderliche Höhe von 40.000 fl erreicht hatte, erfolgte am 4. Juni 1883 die Genehmigung des Statutenentwurfs durch das Innenministerium. Nach der Darstellung Roncalis in der Notariats-Zeitschrift des Jahres 1883, in welcher laufend Namen und Spendensummen aus den Reihen der Standesmitglieder verlautbart wurden, leisteten die Notare den größten Teil der Summe, doch nahezu alle Kandidaten brachten ebenfalls Beiträge auf. Bereits bei der Gründung wurde das Problem der Freiwilligkeit des Beitritts der Standesmitglieder erkannt. Das Institut wurde daher als vorläufiger Behelf bis zur Einrichtung eines „Notaren-Reichs-Pensions-Institutes“ angesehen, dem dann alle Standesmitglieder verpflichtend angehören sollten. Die einmalige Bedeutung des Pensionsinstitutes lag aber vor allem auch darin, dass es eine standeseigene Versorgungsanstalt für eine Berufsgruppe war. Der Zustrom der Standesmitglieder zu dieser Versicherung ging jedoch zunächst nur schleppend voran. Trotz aller Bemühungen Roncalis, der vom Pensionsinstitut erwartete, dass es „wahrscheinlich ohnehin die meisten Standesgenossen umfassen“ werde, blieben die Mitgliedzahlen hinter seinen Erwartungen zurück. 1889, dem Todesjahr Roncalis, waren von den 1.829 Standesmitgliedern nur 169, also circa 9 % der Versicherung beigetreten. Dennoch blieb das Pensionsinstitut dank beherzter Führung und großzügiger privater Zuwendungen erfolgreich, konnte den Vermögensstand vermehren und bis zum Jahre 1915 die Mitgliederzahl auf 369 ausweiten. 52
Nachdem das Innenministerium die Statuten und die Prämientarife des Pensionsinstitutes des Österreichischen Notarenvereins genehmigt hatte, fand im Konsistorialsaal der alten Wiener Universität im Stubenviertel am 17. November 1883 die konstituierende Generalversammlung des Pensionsinstitutes statt, bei welcher Dr. Leone Roncali in das leitende Gremium, den Pensionsausschuss, gewählt wurde. Bei der 1. Sitzung des Pensionsausschusses am 28. November 1883 erfolgte seine Bestellung zum Vereinsobmann des neu geschaffenen Pensionsinstitutes.
Mit der Gründung des Pensionsinstitutes hat sich Roncali, dem – den schriftlichen Zeugnissen seiner zeitnahen Standeskollegen zufolge – „seine unablässige Sorge der Regelung des Versorgungswesens im Notarenstand galt“, sein größtes Ziel verwirklicht. Die Freude über die gelungene Gründung des Pensionsvereins wurde allerdings durch einen Trauerfall in seiner Familie überschattet. Am 29. Februar 1884 verstarb sein Schwiegervater Johann Wenzel Hocke, resignierter Notar in Linz, Vater des Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Emmerich Hocke und des k. k. Staatsanwalts Fr. Hocke. 53
Die Schaffung des Pensionsinstituts war sein alleiniger und unbestrittener Verdienst. Viele wären vor der Größe der Aufgabe und den Schwierigkeiten zurückgeschreckt. Es gab viele Kollegen, die anfänglich an der Möglichkeit des Aufbringens eines Garantiefonds in der geforderten Höhe und an der Prosperität dieses Unternehmens zweifelten. Roncalis Energie und seinem Gemeinsinn waren solche Hindernisse fremd. Er kannte keine Einwendungen, wenn es galt, ein hochgestecktes Ziel zu erreichen. Mit den Sammelbögen in der Hand ging er selbst von einem Kollegen zum anderen, schrieb Brief auf Brief, bis es seinen überzeugenden Worten gelungen war, in unglaublich kurzer Zeit eine Summe aufzubringen, die die geforderte Höhe des Garantiefonds in der Höhe von 40.000 fl (nach heutiger Währung ca. € 634.000) um ein Bedeutendes überstieg. Als das Zustandekommen des Instituts gesichert war, war er, so wird berichtet, ebenso unermüdlich in der Anwerbung von Mitgliedern. Mit „wahrhaft väterlicher Sorgfalt und mit einer geradezu kleinlichen Gewissenhaftigkeit leitete er die Geschäfte dieser Standesanstalt und freute sich an dessen Emporblühen“. 54 In den von ihm verfassten Artikeln in der Notariats-Zeitschrift des Jahres 1883, „Notarenverein und Pensionsinstitut“ und „Zur bevorstehenden Constituierung des Pensionsinstitutes“ bewarb er dieses Institut und rief dazu auf, diesem beizutreten. Das Aktivvermögen des Pensionsinstitutes betrug am Ende der ersten Geschäftsperiode (31. Dezember 1884) bereits 93.203,46 fl (das enstpricht heute ca. € 1.552.000). Roncali selbst trat als erster Versicherungsnehmer mit der Versicherungsvertragsnummer „Eins“ dem Pensionsinstitut des Österreichischen Notarenvereins bei. Einer Mitteilung des Pensionsinstitutes zufolge, enthaltend im Verlassenschaftsakt nach Leone Roncali, wurde seine Witwe Katharina Roncali am 12.11.1889 verständigt, dass ihr und ihrer minderjährigen Tochter Irene, eine Witwen- und Waisenpension im Betrag von jährlich 7.900 fl (das entspricht heute ca. € 132.483) zustünden.
Auf Anregung des Österreichischen Notarenvereins wurde mit Gesetz vom 2. April 1885 bestimmt, dass die Geldbußen aus Disziplinarstrafen gegen Notare und Notarsubstituten dem Pensionsinstitut zufallen. Diese Bestimmung wurde jedoch erst mit Bundesgesetz vom 2. Juli 1929, Nr. 257, betreffend Änderungen der Notariatsordnung, aufgehoben. Dabei wurde festgelegt, dass Geldbußen zugunsten der Notarenkollegien verfallen und Wohlfahrtszwecken zu widmen sind. 55 In der Sitzung des Ausschusses des Pensionsinstituts am 5. April 1888 wurde der Ankauf des 1859 erbauten Hauses in Wien IX., Währinger Straße 16, zum Preis von 200.000 fl (heutiger Wert ca. € 3.412.000) vorbehaltlich der Genehmigung durch die Generalversammlung beschlossen. Die VI. Generalversammlung des Pensionsinstituts genehmigte am 23. April 1888 diesen ersten Erwerb einer Realität durch das Pensionsinstitut. 56 In diesem Haus unterhielt Roncali seit 1883 seine Notariatskanzlei und verlegte dorthin auch den Verwaltungssitz des Pensionsinstituts.
Der Erfolg des Pensionsinstituts ließ ihn jedoch nicht zur Ruhe kommen. Noch sah er Standesmitglieder in besonderen Fällen unversorgt, sodass er fünf Jahre später, anlässlich des 40-jährigen Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph den „Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumsfonds“ ins Leben rief. Dessen sozialer Zweck war es, jenen Kollegen Hilfe zu gewähren, die dem Notarenstand zu kurz angehörten, um das „Triennium“ – jene 3 Jahre Mitgliedschaft, die für die Erlangung des Versicherungsschutzes erforderlich waren – nachweisen zu können. Es gelang ihm auch diesen Fonds innerhalb kurzer Zeit mit nahezu 16.000 fl ( das entspricht heute ca. € 273.000) zu dotieren. Das Pensionsinstitut konnte 1889, im Jahr seines Ablebens, bereits einen Vermögensstand von 270.000fl (heute ca. € 4.534.000) ausweisen. 57
Anlässlich des 25. Todestages von Roncali, am 6. November 1914, wurde auf Anregung des Präsidenten des Pensionsinstituts, Notar Dr. Ritter von Winterhalder, der „Dr. Leone Roncali-Fonds“ zur Unterstützung bedürftiger Mitglieder gegründet, der jedoch infolge des Kriegsausbruchs keine bedeutende Wirksamkeit entfalten konnte.
9. Roncali als Präsident der k. k. n.ö. Notariatskammer
Die Notariatsordnung von 1871 brachte endlich die seit der Notariatsordnung von 1855 angestrebte Standesautonomie bei der Bildung und Zusammensetzung der Notariatskammern und damit auch die Möglichkeit, sich innerhalb der Oberlandesgerichtssprengel zu einer gemeinsamen Kammer zusammenzuschließen. Der Einfluss des Justizministeriums wurde vollständig zurückgedrängt. Dadurch gewann auch die Funktion der Notariatskammer als Träger der Standesinteressen allmählich an Bedeutung. Gemäß § 126 NO 1871 durfte die erforderliche Zustimmung des Justizministers nicht verweigert werden, wenn die beteiligten Kollegien jeweils mehr als 15 Mitglieder zählten und alle Kollegien einen übereinstimmenden Beschluss zur Vereinigung fassten. Nachdem die Vereinigung der fünf Notariatskollegien in Niederösterreich zunächst vom Justizministerium abgelehnt worden war, konnte sie 1872 erfolgreich umgesetzt werden. In Tirol schlossen sich 1873 die Notariatskollegien des Landesgerichtssprengel Innsbruck und Bozen zu einer gemeinsamen Kammer zusammen und gründeten einen Notarenverein. 1896 erfolgte auch der Anschluss der Notare Vorarlbergs. Auch in der Disziplinargerichtsbarkeit wurde den nunmehr autonomen Notariatskammern eine Funktion und Mitwirkung übertragen. 58
Bei der Konstituierung der ersten gemeinsamen n.ö. Notariatskammer am 4. Jänner 1873 wurde Roncali zum Kammermitglied gewählt. Nach dem Ableben des Präsidenten der n.ö. Notariatskammer in Wien, Dr. Franz Leidesdorf, am 18. August 1885, wurde in der Kollegiumsversammlung vom 10. Oktober 1885 Roncali zu dessen Nachfolger gewählt. Damit waren alle leitenden Funktionen in Kammer, Notarenverein, Pensionsinstitut und Redaktion der Notariats-Zeitschrift in seiner Hand vereint. Auch als Präsident der Notariatskammer setzte Roncali seine konsequenten Bemühungen zum Ausbau der Standesautonomie fort und veranlasste in seiner Funktion als Präsident des Österreichischen Notarenvereins die Veröffentlichung einer Denkschrift „Über eine Reform des Aufsichts- und Disziplinarwesens in Ansehung der Notare und Notariatscandidaten“. Diese enthielt seine bereits seit 20 Jahren erhobene Forderung nach einer Beteiligung der Notariatskammern an der Disziplinargerichtsbarkeit sowie nach der Aufnahme von Notaren in die Disziplinarsenate der Oberlandesgerichte. (93 Seiten, Wien, Selbstverlag). 59
In den Jahren nach 1871 wurde Roncali zum ersten großen Organisator und Führer des Notarstandes und – neben Notar Dr. Carl Lötsch – zum wichtigsten Repräsentanten des österreichischen Notariats in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Roncali übte, wie in allen seinen notariellen Standesfunktionen, auch die Funktion als Präsident der niederösterreichischen Notariatskammer trotzseiner gesundheitlichen Probleme mit voller Tatkraft bis zu seinem Ableben aus. Wenige Tage vor seinem Tod legte er die Kammerpräsidentschaft, die er wie alle seine Ämter mit Geschick, Umsicht und Energie ausgeübt hatte, krankheitsbedingt zurück. 60
10. Roncali und seine Tätigkeiten außerhalb des Notariats
Bereits im Jahr 1868 wurde er als Dolmetsch für die italienische Sprache bei den Gerichtsbehörden in Wien bestellt; später erfolgte auch seine Bestellung in dieser Eigenschaft beim k. k. Reichsgericht sowie beim k. k. Obersthofmarschallamt. Darüber hinaus beherrschte er auch Französisch, Portugiesisch und Spanisch in Wort und Schrift. Er fungierte weiters als Kontrollredakteur der italienischen Ausgabe des Reichsgesetzblattes, war Präfekt der italienischen Nationalkirche in Wien, Mitglied des Juristischen Doktorenkollegiums sowie Mitglied des Ausschusses der Wiener Juristischen Gesellschaft.
Seinem sozialen Naturell entsprechend integrierte er sich auch im privaten Bereich an seinem Wohnort in das gesellschaftliche Leben des Währinger Cottage, seiner Wohngegend. Seine Mitgliedschaft im Währinger Cottage-Casino, belegt durch ein Mitgliederverzeichnis der Versammlung dieses Vereins vom 8. März 1881 61 , belegt dies eindeutig.
11. Ehrungen
Viele Standesorganisationen des Notariats ließen Roncali Ehrungen zuteilwerden. 1878 ernannte ihn der Mährisch-Schlesische Notarenverein zum Ehrenmitglied. 1880 erhielt er die Ehrenmitgliedschaft des Vereins der Notare in Böhmen. Der Österreichische Notariatsverein ließ sein Porträt von dem bekannten Kunstmaler Franz Rumpler (1848-1922) anfertigen. Das Gemälde wurde in der Generalversammlung des Österreichischen Notarenvereins vom 6. September 1885 in Gegenwart des Vereinspräsidenten Roncali enthüllt und von ihm mit großer Freude und Dankbarkeit aufgenommen. Kaiser Franz Joseph verlieh mit seiner Allerhöchsten Entschließung vom 20. September 1887 Roncali den Orden der Eisernen Krone III. Klasse. Dieser auf Lebenszeit verliehene Orden wurde häufig für herausragende Leistungen auf zivilem und militärischem Gebiet zugesprochen. Er galt als einer der höchsten Verdienstorden der Monarchie und erlangte für das aufstrebende Bürgertum dieser Zeit eine besondere sozialhistorische Bedeutung. Das Vorhaben, für ihn als Auszeichnung für seine hervorragenden Verdienste um die Rechtspflege in Österreich die Verleihung des Adelsstandes zu erwirken, kam wegen seines Todes nicht mehr zur Ausführung. Für seine vortreffliche Übersetzung des italienischen Zivilgesetzbuches wurde sein Name auch in weiteren Kreisen international bekannt. So wurde er für diese Arbeit vom italienischen König Umberto I. persönlich durch die Übersendung eines Anhängers (Breloque) ausgezeichnet. 62 Diese Auszeichnung vermachte er in seinem Testament vom 28. Dezember 1887 als Legat seinem Bruder Dr. Angelo Roncali, Universitätsprofessor in Genua.
Eine besondere Ehrung durch den Österreichischen Notarenverein wurde Roncali nach seinem Tod durch die Errichtung eines Grabdenkmals zuteil. In einer außerordentlichen Sitzung der Zentraldeputation des Österreichischen Notarenvereins am 24. November 1889 wurde der Beschluss gefasst, ihm ein würdiges Grabdenkmal zu errichten, dessen Kosten im Wege einer im gesamten Notarenstand einzuleitenden Subskription aufgebracht werden sollten. Das um den Kostenbeitrag von 2562 fl 86kr 63 (heute ca. € 43.000) geschaffene Grabdenkmal wurde nach den Plänen des berühmten Architekten Edmund Helmer vom besten Steinmetz jener Tage, Eduard Hauser, realisiert und mit einem vom Kammermedailleur Scharf geschaffenen Kopfrelief des Verstorbenen versehen. Dieses Grabdenkmal ist leider vermutlich in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, in Verlust geraten. Sämtliche Nachforschungen über den Verbleib dieses Grabdenkmals blieben bisher ohne Erfolg. Erhebungen in der Gemeinde Gloggnitz und für den Fall einer erfolgten Verlegung der Grabstelle nach Wien, bei der Wiener Bestattung oder dem Wiener Stadt- und Landesarchiv brachten keinen Erfolg. Weder Pläne, Zeichnungen noch Abbildungen dürften sich erhalten haben. Von diesem Grabdenkmal liegt vom ehemaligen Substituten Roncalis, Dr. Franz Mayrhofer, eine Beschreibung vor, die dieser anlässlich der Übergabe des Grabdenkmals an die Familie Roncali in der Notariats-Zeitschrift veröffentlichte: „Imposant erhebt sich das nach den Plänen des Architekten Helmer von der Firma Eduard Hauser in Wien ausgeführte Grabdenkmal, ein aus schwedischem Granit verfertigter Obelisk aus dem Blumenwalde. Die übrigen Monumente weit überragend, ist das Denkmal schon von weitem aus sichtbar. Die Vorderseite des Obelisken trägt das von dem Kammermedailleur Scharf mit künstlerischer Meisterschaft hergestellte, in Bronze ausgeführte Kopfbild des Verstorbenen, unter welchem, in goldenen Lettern die Inschrift eingegraben ist:
„Dr. Leone Roncali k. k. Notar,
Präsident des Österreichischen Notarenvereines und Obmann des Pensionsinstitutes desselben,
1840 bis 1889“.
Am Sockel des Obelisken befindet sich in goldenen Lettern die Inschrift:
„In Anerkennung Seiner unvergänglichen Verdienste um das Österreichische Notariat haben zu Ehren Seines Andenkens dieses Denkmal gewidmet,
die dankbaren Standesgenossen“.
Das Grabdenkmal wurde am 6. November 1890, dem Jahrestag des Ablebens Roncalis, von einer Deputation des Notarenstandes, bestehend aus dem Präsidenten der k. k. n.ö. Notariatskammer, Dr. Karl Frischauf, dem Obmann des Pensionsinstituts des Österreichischen Notarenvereins, Dr. Robert Mathoy, dessen Stellvertreter Dr. Otto Gesselbauer, den Mitgliedern der Zentraldeputation des Österreichischen Notarenvereins, Heinrich Giriczek, Dr. Julius Richter und Dr. Franz Mayrhofer und weiteren Standesmitgliedern, die sich zu diesem Zweck nach Gloggnitz begeben hatten, in Gegenwart des Gloggnitzer Notars, Dr. Johann Kuhn, an die Witwe Katharina Roncali und deren Kinder übergeben. 64
12. Die Verlassenschaft Roncali und seine Nachkommen
Dr. Leone Roncali verstarb am 6. November 1889 an seinem letzten Wohnsitz in Wien-Währing, Anastasius-Grün-Gasse 50 (heute 48), in der Villa, die er als Bauherr vom Cottage-Verein unter Architekt Borkowski im Jahre 1878 errichten ließ und die noch heute unter der Bezeichnung „Roncali-Villa“ bekannt ist. 65
Sie gehört zu jenen Villen der frühen Cottage-Zeit, die im Wesentlichen unverändert geblieben und noch bis vor kurzem in derselben Eigentümerfamilie verblieben waren. Das heute auf dieser Liegenschaft errichtete typische Cottage-Haus 66 beherbergt im Souterrain die Wirtschaftsräume mit Küche (einschließlich Speisenaufzug in die oberen Stockwerke), Dienstbotenzimmer und Kellerabteile, ferner im Hochparterre die Wohnräume, darunter zwei miteinander verbundene Salons mit Holztramdecke und einer gartenseitigen Holzveranda, sowie im Dachgeschoss weitere Wohn- und Schlafräume. Die Idee des „Cottage-Hauses“ galt gegen Ende des 19. Jahrhunderts als die modernste und fortschrittlichste Wohnform und bezeugt Roncalis Aufgeschlossenheit gegenüber den Entwicklungen seiner Zeit. Auch seine Erben und Nachkommen schätzten diese Wohnform, sodass erst seine Urenkelinnen sich im Jahr 2006 von diesem Besitz trennten. Die von Leone Roncali im Währinger Cottage-Viertel errichtete Villa befand sich zu seinem Todestag nicht mehr in dessen Eigentum und fiel daher nicht in seinen Nachlass. In einem Verzeichnis der Cottage-Besitzer vom Juni 1887 ist als Eigentümerin „Katharina Roncali, k. k. Notarsgattin, Anastasius-Grün-Gasse 50“ verzeichnet. 67
Die Verlassenschaftsabhandlung nach Dr. Leone Roncali 68, wurde beim k. k. Bezirksgericht Währing als zuständigem Abhandlungsgericht zu Geschäftszahl GZ IV.1348/89 durchgeführt. Das Gericht beauftragte den örtlichen Notar Dr. Peter Gasser 69 als Gerichtsabgeordneten mit der Errichtung der Todesfallaufnahme, welche dieser am 11. November 1889 am Wohnort des Verstorbenen mit dem nach Wien geeilten Bruders Roncalis, Dr. Angelo Roncali, in Gegenwart von Notar Dr. Robert Mathoy und Roncalis Notarsubstituten, Dr. Franz Mayrhofer, durchführte; diese unterzeichneten das Aufnahmeformular als Zeugen. Dr. Leone Roncali hinterließ seine Gattin Katharina Roncali, geb. Hocke, mit der er seit 29. September 1866 verheiratet war, sowie zwei zum Zeitpunkt seines Ablebens noch minderjährige Kinder: seinen Sohn Camillo Roncali, „Hörer der Rechte 22 Jahre“, geb. am 19. Juli 1867, und seine Tochter, Irene Roncali, „Schülerin 10 Jahre“, geb. am 31. Jänner 1879. Zum Mitvormund für seine minderjährigen Kinder bestimmte er in seinem Testament seine Freunde, k. k. Notar Dr. Robert Mathoy, Wien-Währing, beziehungsweise, falls dieser ablehnen sollte, Notariatskandidat Dr. Otto Gesselbauer, der zum Zeitpunkt seines Ablebens bereits Notar in Groß-Enzersdorf war. Als weitere Angehörige hinterließ er seinen Bruder Dr. Angelo Roncali, Universitätsprofessor in Genua, Via Cassaro 32, sowie seine Schwester Leontina Amighetti, geb. Roncali, verheiratet in Parma.
Roncali errichtete insgesamt drei Testamente, die er gelegentlich auch mit „Leon“ Roncali unterfertigte. Das Testament vom 28. Dezember 1887, in dem er die beiden vorherigen Testamente widerrief, wurde gleichzeitig am 11. November 1889 zusammen mit den Testamenten vom 3. August 1884 und 3. Oktober 1877 kundgemacht und dem Bezirksgericht Währing als Abhandlungsgericht vorgelegt.
Das erste Testament vom 3. Oktober 1877 70 errichtete er unmittelbar nach der Geburt seines Sohnes Camillo am 19. Juni 1877, das zweite Testament vom 3. August 1884 71, anlässlich seines lebensbedrohlichen Jagdunfalls Anfang August desselben Jahres, und sein letztes Testament vom 28. Dezember 1887 im Bewusstsein seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes. Roncalis zuletzt errichtetes Testament vom 28. Dezember 1887 bildete die Grundlage für die Erbantrittserklärung der Testamentsalleinerbin, seiner Witwe Katharina. 72 Dr. Otto Gesselbauer übernahm die zusätzlich zur Vormundschaft der leiblichen Mutter erforderliche Mitvormundschaft für die erbl. Kinder Camillo und Irene und vertrat die erbl. Witwe auch als Erbenmachthaber bei der Durchführung der Verlassenschaftsabhandlung. Das Testament von Leone Roncali enthielt die folgenden letztwillige Bestimmungen:
„Testament
Ich, Endesgefertigter Dr. Leone Roncali, k. k. Notar in Wien, wohnhaft in Währing, Anastasius-Grün-Gasse, No. 50, errichte hiermit folgende letztwillige Anordnung und widerrufe die früher von mir niedergeschriebenen Testamente.
- Ich ernenne zu meiner Universalerbin, meine innig geliebte, brave Frau Katharina Roncali, geborene Hocke, der ich aus diesem Anlass innig für alle Liebe und Geduld danke, die diese mit mir gehabt, und die ich um Vergebung bitte, dass ich sie nicht selten durch mein rasches Wesen verletzt habe. Sie weiß, dass sie mir auf Erden das Liebste war und dass ich es mit ihr stets redlich gemeint habe.
- Meine beiden lieben Kinder Camillo Roncali und Irene Roncali, beschränke ich auf den gesetzlichen Pflichtteil.
- Zum Mitvormund dieser beiden Kinder berufe ich meinen Kollegen Sg. Dr. Robert Mathoy, k. k. Notar in Währing, und falls er die Vormundschaft nicht annehmen könnte, oder wollte, meinen Freund Dr. Otto Gesselbauer, derzeit Notariatskandidat in Wien. Falls auch dieser nicht Mitvormund sein könnte oder wollte, meinen Freund Sg. Doktor Ignaz Edler von Ruber, k. k. Landesgerichtsrat in Wien. Nachdem meine Verlassenschaft und meine Kinder dem k. k. Bezirks-gerichte in Währing unterstehen werden, die Zustände dort derzeit aber der gerade Gegensatz von Gerechtigkeit und Humanität darstellen, so bitte ich meine lieben oben genannten Freunde, das Interesse der Erben und Pflichtteilsnehmer besonders genau ins Auge zu fassen und etwaige Übergriffe oder Verfehlungen seitens des Gerichtes mit aller Entschiedenheit entgegen zu treten.
- Ich bitte meine Frau und Erbin meinen lieben Freunden denn soeben genannten Dr. Robert Mathoy, Dr. Otto Gesselbauer und Dr. Ignaz Edler von Ruber, dann Friedrich Nitsche, k. k. Notar in Hohenfurt, irgendein Andenken an mich zu übergeben.
- Dem Österreichischen Notarenverein vermache ich meine Sammlung von Werken und Broschüren über Notariatswesen.
- Meinen Bruder Dr. Angelo Roncali, Professor in Genua, vermache ich als Andenken jenes Breloque, welches ich von Seiner Majestät, König Humbert I von Italien erhalten habe, meiner Schwester Frau Leontina Amighotti in Parma, das kleine Miniaturportrait unserer guten Mutter, Frau Antonia Roncali.
- Alle diese kleinen Andenken sind gebührenfrei zu geben, nur der Notarenverein hat für das seine die Gebühr zu entrichten.
- Meine Erbin hat sich in Ansehung der Verständigung der Legatare oder der Berichtigung der Legate Niemandem gegenüber, namentlich nicht dem Gericht gegenüber auszuweisen.
- Ich wünsche, in der aller einfachsten Weise begraben zu werden, ich verbiete ausdrücklich jede Musik, jeden Gesang, jede Rede bei der Bestattung oder in der Kirche. Sollte es leicht und kostenlos möglich sein, dann möge man einst meine gute liebe Frau zu mir betten.
Indem ich den vielen guten Menschen, die ich auf meinem Lebensweg gefunden habe, für das mir erwiesene Gute herzlich danke, bitte ich Alle um Vergebung, die ich beleidigt oder gekränkt, und verzeihe Allen, die mir Unbill angetan!
Wien am 28. Achtundzwanzigsten XII Dezember 1887 eintausendachthundertsiebenundachtzig (sic!). Dr. Leon Roncali m.p., k. k. Notar“. (Kollationierungsklausel wie oben)
Die kritischen Bemerkungen Roncalis in Punkt 3 seines Testaments, die seinem Wesen entsprachen, unbeirrt Missstände anzuprangern, blieben nicht ohne Folgen. Im Verlassenschaftsakt liegt der folgende, nicht unterfertigte Kommentar des Abhandlungsgerichts zu den kundgemachten Testamenten Roncalis vor: „Infolge Auftrages seiner Exzellenz des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten wird diesen Testamenten beigefügt der Wortlaut des Hofd. vom 11. Februar 1828 No. 222 J.G.S,: In Erwägung, dass die Testamente Urkunden sind, welche Privatrechte begründen, kann es weder den Justizbehörden noch Privatpersonen erlaubt werden, dieselben mittels durch Streichungen einzelner Worte oder Stellen zu verstümmeln. Derjenige Testator, welcher in die schriftliche Klärung seines letzten Willens Ausdrücke einmengt, welche die Ehre seiner Mitbürger, die Staatsverwaltung oder den Landesfürsten beleidigen, errichtet hierdurch nur sich selbst ein Denkmal seiner Bosheit und seiner verkehrten Gesinnung. Aus diesem Grunde haben sich seine Majestät bewogen gefunden, durch a. h. E. v. 28. November 1827 zu erklären: es sei der Justizbehörde nicht erlaubt, von dergleichen Testamenten unvollständige Abschriften zu erteilen, welche nicht den vollen Inhalt des Testamentes oder bloß einzelne Stellen oder Teile des selben enthalten, und sie haben von allen jenen Testamenten, welche gefährliche, politische Grundsätze oder beleidigende Ausdrücke gegen die Staatsverwaltung oder den Landesfürsten enthalten, also gleich und jederzeit Abschriften an das Regierungspräsidium einzusenden.“ 73
Die kritischen Bemerkungen Roncalis in seinem Testament, mit denen er seine Unzufriedenheit über Zustände in österreichischen Justiz, insbesondere beim Bezirksgericht Währing, ausdrückte und deren Ursachen aus den vorliegenden Quellen nicht ersichtlich sind, veranlasste die n.ö. Notariatskammer, aufgrund eines Sitzungsbeschlusses vom 18. November 1889 dem Bezirksgericht Währing durch ihren stellvertretenden Präsidenten, Notar Dr. Frischauf, ihr „lebhaftes Bedauern“ über diese Äußerungen sowie deren Missbilligung auszudrücken 74 um damit diesen Zwist zu kalmieren. Damit waren offensichtlich alle Probleme ausgeräumt, die möglicherweise die Durchführung der Verlassenschaftsabhandlung bei diesem Gericht erschwert hätten.
Die Witwe Katharina Roncali, vertreten durch ihren Erbenmachthaber Dr. Otto Gesselbauer, Notar in Groß-Enzersdorf, gab aufgrund des erbl. Testaments vom 28. Dezember 1887 als testamentarische Alleinerbin, eine „bedingte Erbserklärung“ ab. Die Inventarisierung der erbl. Nachlasswerte am Wohnort Roncalis durch den Gerichtskommissär Notar Dr. Peter Gasser am 23. Dezember 1889 ergab ein Nachlassvermögen von 270 fl 20 kr in dem bereits Roncalis Privatbibliothek bestehend aus ca. 200 Bänden über Notariat und freiwillige Gerichtbarkeit, bewertet mit 50 fl, erfasst ist.
Notar Dr. Wilhelm Theuer, Wien-Innere Stadt, Fleischmarkt Nr. 10, errichtete am 10. Dezember 1889 als Gerichtskommissär ein Teilinventar über die bei Zivilgerichts-Depositenamt Wien unter „Pecher Ignaz, k. k. Notarsubstitut in Korneuburg“ erliegenden Nom. 2.000 fl Grundentlastungsobligationen des Königreichs Ungarn, die Roncali dort am 16. Juni 1888 unter Eigentumsvorbehalt als Kaution für Ignaz Pecher hinterlegt hatte. Das von Notar Dr. Anton Swoboda, Wien-Alsergrund, als Gerichtskommissär am 7. Dezember 1889 errichtete Teilinventar über das erbl. Vermögen am Kanzleisitz in Wien 9., Währinger Straße 16, weist an Barschaft und Privatforderungen 2.271 fl 25 kr, 75 die Kanzleieinrichtung im Wert von 482 fl 30 kr, einen großen Posten Bücher 100 fl und an ausständige Gerichtskommissionsgebühren und Expensenforderungen 7.116 fl 72 kr. Die Aktiva betragen damit zusammen 9.969 fl 72 kr aus. Im Pflichtteilsausweis vom 9. Dezember 1890 wurden Nachlassaktiva von 12.488 fl 2 kr, Nachlasspassiva von 1157 fl 2 kr und ein Reinnachlass von 11.331 fl 2 kr (das entspricht einem heutigen Wert von ca. € 190.360), ausgewiesen. Das errechnete sich für die beiden pflichtteilsberechtigten Kinder Camillo und Irene Roncali jeweils ein Pflichtteil von je 2.832 fl 75 kr.
Mit Einantwortungsurkunde vom 12. Dezember 1890 wurde der Nachlass der erbl. Witwe Katharina Roncali eingeantwortet. Camillo, Roncalis Sohn, erreichte am 19. Juli 1892 mit Vollendung seines 25. Lebensjahres die Volljährigkeit und erhielt damit das Verfügungsrecht über seine Pflichtteilsportion. 76 Am 17. Mai 1899 beantragten Katharina Roncali als Vormund der erbl. Tochter Irene sowie Dr. Camillo Roncali, der die Mitvormundschaft für seine Schwester Irene Roncali (geb. 31. Jänner 1879) übernommen hatte, beim Bezirksgericht Währing die Großjährigkeitserklärung; als Begründung gaben sie die beabsichtigte Eheschließung Irenes mit Dr. Benno Fritsch, Ministerialkonzipient aus Wien, an. Beide begründeten damit die weitere Nachkommenschaft der Familie Roncali. 77
13. Würdigung, Resümee
Dr. Leone Roncali, k. k. Notar in Wien, ist neben den zahlreichen hervorragenden Standeskollegen, die ihn auf seinem leider viel zu kurzen beruflichen Lebensweg zwischen 1861 und 1889 begleiteten, die wohl herausragendste Persönlichkeit, die das junge österreichische Notariatsinstitut in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Als Lehrmeister und Kollegen standen ihm exzellente Juristen und Fachschriftsteller wie die Notare Dr. Josef Chiari, Dr. Johann Baptist Zugschwerdt und Dr. Karl Reich zur Seite, „Vordenker“, wie die Notare Dr. Karl Ritter von Kißling, Dr. Carl Edmund Langer und Dr. Carl Lötsch, Wegbegleiter wie Notar Dr. Josef Löw und sein treuer Notarsubstitut Dr. Franz Mayrhofer, der zunächst als Redakteur der Notariats-Zeitschrift und später als Präsident des Pensionsinstituts und der n.ö. Notariatskammer einen großen Teil von Roncalis Lebenswerk fortsetzte. Roncali vereinigte erstmals alle leitenden und maßgeblichen Funktionen des Notarenstandes in einer Hand. In all seinen Funktionen war er stets ein unermüdlicher Vorkämpfer und brillanter Verfechter des in den ersten Jahrzehnten nach seiner Wiedereinrichtung 1850 so sehr umstrittenen, in Frage gestellten und bekämpften Notariatsinstituts in Österreich.
Roncali, der bekanntlich erst während seiner juristischen Studien in Wien die deutsche Sprache richtig erlernen konnte, besaß eine außergewöhnliche schriftstellerische Begabung und war zugleich als glänzender und überzeugender Redner bekannt. Sein Erfolg als Organisator und als „Mann der zielbewussten Tat“, Standesangelegenheiten zu bewegen und zum Besseren zu verändern, lag in seinem Charisma und in der ihm nachgesagten Fähigkeit, mit Geduld und Beharrlichkeit seine Umgebung für seine Ziele zu gewinnen und zu begeistern. Selbst als überragender Jurist und Kenner des österreichischen und internationalen Notarenrechts geschätzt, liefen bei ihm die Ideen und theoretischen Grundlagen, die seine Berufskollegen für die Fortentwicklung des Notariatsinstituts lieferten, zusammen und wurden durch ihn konsequent umgesetzt. 78
Einen wesentlichen Beitrag zur legistischen Ausgestaltung der Notariatsordnung 1871 leisteten die nach 1861 im Rahmen der Selbstorganisation des Notariats, als Gegenpol zu den durch die Justizverwaltung weitgehend fremdbestimmten Notariatskammern gegründeten, von Roncali betriebenen und publizistisch geförderten Notarenvereine. Sie waren bei der Gesetzwerdung der Notariatsordnung 1871 die entscheidenden Ansprechpartner für das Justizministerium. Als Ende der Siebziger und Anfang der Achtzigerjahre die Gründung einer umfassenden Vereinigung zur wirksamen Vertretung des Notarenstandes herangereift war, bildeten sie die Vorlage für den 1881 durch Roncali konstituierten Österreichischen Notarenverein als Zusammenschluss aller Standesmitglieder der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Hierzu schreibt sein Substitut Dr. Franz Mayrhofer: „Es gelang es vor Allem der Klugheit, dem Scharfblick, der Gewandtheit und der unglaublichen Arbeitskraft Roncalis all‘ die mannigfachen Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden“; und weiter, dass „die Gründung des Österreichischen Notarenvereins ohne die aufopfernde Tätigkeit Roncalis überhaupt nicht denkbar gewesen wäre“. 79 Es ist daher das alleinige Verdienst Roncalis, dass er sehr früh die Notwendigkeit erkannte, dem österreichischen Notarenstand mit dem 1881 gegründeten Österreichischen Notarenverein, zunächst eine wirksame Vertretung nach außen und durch das 1883 ins Leben gerufene Pensionsinstitut des Österreichischen Notarenvereins eine soziale Sicherheit nach innen zu geben. Seit seinen frühesten Tagen im Notariat zeichnete Roncali ein ausgeprägtes soziales Verständnis für die materielle Situation aller Standesmitglieder aus, von den Notariatskandidaten bis hin zu den betagten und kranken Amtsträgern und deren Angehörigen. Das bewog ihn dazu, nach der schwierigen Schöpfung des Österreichischen Notarenvereins unter dessen organisatorischem Dach seine wohl „unvergänglichste und verdienstvollste Schöpfung“, die Gründung des bis heute nachwirkenden Pensionsinstituts des Österreichischen Notarenvereins, zu verwirklichen.
Nicht unerwähnt dürfen dabei auch die Wegbegleiter Roncalis auf politischer Ebene bleiben, die eine entscheidende Stärke des jungen Notariats und eine unabdingbare Unterstützung aller Reformbestrebungen des Notarenstands darstellten. Das Engagement seiner Standesmitglieder auf politischer Ebene durch über 20 Notare als Mandatare im Reichsrat und in den Landtagen der Kronländer 80. Allen voran sind darunter hervorzuheben, als Reichsratsmitglieder im Abgeordnetenhaus: der Mitgründer der Notariats-Zeitschrift und deren erster Redakteur Dr. Franz Groß, Bürgermeister von Wels; die Notare Dr. Alexander Julius Schindler, Wien, ein begnadeter Redner und talentierter Schriftsteller, DDr. Ignaz Kaiser, Wien, Dr. Ludwig Hann, Zell am See, Dr. Anton Ryger, Rohrbach (OÖ), Dr. Johann Fleckh, Kirchbach (Stmk.), Dr. Franz Kiderle, Steyr, Dr. Hermann Merlitsch, Völkermarkt, Dr. Andreas Hofer, Amstetten und Dr. Max Spaun, Enns, und im Herrenhaus, Dr. Franz Rapp, Innsbruck. Von den Landtagsabgeordneten sind der Salzburger Bürgermeister Ignaz Harrer, der Kremser Bürgermeister Dr. Ferdinand Dinstl und vor allem Dr. Carl Lötsch, Bürgermeister von Grieskirchen, besonders zu erwähnen.
Roncalis wissenschaftliche Beiträge und aktuelle Kommentare in der Notariats-Zeitschrift waren nicht nur eine wertvolle Wissens- und Informationsquelle für alle Standesmitglieder, sondern förderten Selbstbewusstsein und Solidarität im Notarenstand und waren Hoffnungsträger. Beispielhaft dazu sein Artikel, den er nach dem glücklichen Zustandekommen der Notariatsordnung 1871 noch als Notariatskandidat und Redakteur in der „Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich“, 81 veröffentlichte: „Nach einem sechszehnjährigen Ringen, Drängen und Kämpfen um und für eine radicale Reform des österreichischen Notariates, nach einem ebenso unablässigen, als stets von den Principien des Rechtes und der Wahrheit geleiteten ernsten Wirken für Recht und Wahrheit, kann unser Stand sich endlich jetzt eines wirklichen, weitreichenden, für ihn Epoche machenden Erfolges freuen“, und mit „inniger Genugtuung“ weiter feststellt, dass das Notariat Österreich nicht vorenthalten, nicht entzogen worden sei, sondern „neugekräftigt und verjüngt“ weiter bestehe. Rechtslehrer, Richter und Advokaten hätten „die Wichtigkeit des Notariates betont, ihre Stimme sei als die der Fach- und Sachkundigen beachtet worden“. Die Zeit der Leitung der Notariatskammern durch standesfremde Organe war vorbei: „In der Notariatsordnung finden wir das Princip der Standesautonomie, wenn auch nicht vollends correct, doch immerhin annehmbar durchgeführt“.
Dr. Franz Mayrhofer, Roncalis langjähriger Notariatskandidat und nach dessen Ableben Notariatssubstitut der verwaisten Amtsstelle Wien-Alsergrund I, fand in seinem Nachruf die richtigen Worte: „Insbesondere seit dem Jahr 1868, als Roncali als 28-jähriger, junger Notariatskonzipient durch die Übernahme der Redaktion der Notariats-Zeitschrift maßgebend in alle Standesangelegenheiten einzugreifen begann, wurde keine das Notariat betreffende Frage aufgerollt, bei deren Lösung er nicht mit seinem selten tiefen, juristischen Wissen, mit der begeisternden Kraft seines energischen Wollens, mit der bezwingenden Klarheit seines durch die reiche Erfahrung geschärften und von einem reinen, idealen Streben belebten Urteils, anregend, fördernd, klärend und zum Schluss entscheidend, mitgewirkt hätte“. 82
Nach Roncalis Tod wurde sein Lebenswerk von jenen Kollegen, die ihn schon durch viele Jahre seines standespolitischen Wirkens als Ratgeber, wissenschaftliche Berater, Organisatoren, aber vor allem alskollegiale und persönliche Freunde begleitet hatten, in vorbildlicher Weise fortgeführt. Im Österreichischen Notarenverein setzte Dr. Carl Lötsch das Werk fort: Zwar lehnte er die Übernahme des Präsidentenamts wegen seiner fernen Amtsstelle in Grieskirchen ab, stand jedoch als Vizepräsident neben Univ.-Prof Stanislaus Poray, der das Präsidentenamt übernahm, zur Verfügung. Beim Pensionsinstitut führte Dr. Robert Mathoy, Notar in Wien-Währing, die Arbeit weiter. In der n.ö Notariatskammer folgte ihm Dr. Karl Frischauf, und die Redaktion der Notariatszeitung übernahm sein langjähriger Notariatskandidat Dr. Franz Mayrhofer. Roncalis Kanzlei in der Währinger Straße 16 sowie sein Substitut Dr. Franz Mayrhofer wurden vom Notar Heinrich Giriczek übernommen, der 1890 von seiner Amtsstelle in Wien-Innere Stadt XXV auf die verwaiste Amtsstelle in Wien-Alsergrund I, übersetzte.