Das Notariat. Aktuell. Informativ.

NOTARION: Unsere Gesellschaft ist im Umbruch - braucht es neue wirtschaftliche Spielregeln?

Beim NOTARION am 29. November 2023 zeigte WIFO-Direktor Gabriel Felbermayr Herausforderungen und notwendige Reformen für Österreich auf - und diskutierte mit Notariatskammer-Präsident Michael Umfahrer unter der Leitung von Hanna Kordik („Die Presse“) über neue „Spielregeln“ für Wirtschaft und Gesellschaft.

Notariatskammer-Präsident Michael Umfahrer betonte bei der Eröffnung des NOTARIONS das Interesse des Notariats an gesellschaftlichen Entwicklungen. Als großen Trend nannte er die vieldiskutierte Polarisierung der Gesellschaft. Sie bedeute, dass es zu einer Verstärkung von Meinungsunterschieden kommt, die von sozialen Differenzierungen ausgehen oder zu diesen Differenzierungen führen. Bis zum Ende des Kalten Kriegs sei die österreichische Gesellschaft durch Aufbau und Modernisierung als gemeinsames Ziel geprägt gewesen. „Man hat aus dem Krieg gelernt, dass Auseinandersetzungen zu keinen besseren Ergebnissen führen. Man hat gelernt, Kompromisse einzugehen“, verwies Umfahrer auf Sozialpartner und Volksparteien. In der Zwischenzeit hätten sich allerdings zwei Gruppen etabliert: die gebildete Mittelschicht, „die von Errungenschaften des Wohlstands profitiert und ein kosmopolitisches Weltbild entwickelt hat“. Dieser Gruppe gehe es um offene Grenzen, eine liberale Migrationspolitik und auch um Klimapolitik. Ihr gegenüber stehe eine Gruppe von Menschen, die einen geringeren Bildungsgrad hat, stark am Nationalstaat orientiert ist und eine strikte Migrationskontrolle fordert. Sozialer Schutz durch den Staat sei für diese Gruppe ebenso wichtig wie der Vorrang der Ökonomie vor der Ökologie. 

Umfahrer: Selbstreflexion statt Moralisierung

Zwischen diesen beiden Positionen hätten sich immer tieferer Gräben entwickelt. „Die Überzeugungen der jeweiligen Gruppe werden moralisierend vorgetragen, es gibt keinen Diskurs mehr“, kritisierte Umfahrer. Dieses „Einbetonieren“ verhindere die Entwicklung einer Gesellschaft, in der Pluralismus und Diskurs herrschten. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, einen absoluten moralisierenden Standpunkt durch Selbstreflexion zu ersetzen und eine ehrliche Verständigung mit dem Gegenüber zu versuchen. Politische Entscheidungen könnten nicht nur ein Ziel haben, sondern hätten vielfältige Ziele und Interessen zu berücksichtigen. Eine weitere Polarisierung könne zu einer Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat werden. Demokratie brauche Zeit, Geduld und Toleranz dem anderen gegenüber, bilanzierte der Präsident der Notariatskammer.

Felbermayr: Warnung vor „Degrowth“

Wirtschaftsforscher Gabriel Felbermayr erklärte, guter Rat sei teuer, wenn es darum geht, hinter welches Ziel sich alle stellen könnten. Klar sei, dass es Trends gebe, die so nicht weitergehen könnten. Deshalb brauche es neue Spielregeln, was in der Geschichte aber nichts Neues sei. 

Die großen Themen der Zeit seien die Digitalisierung mit dem Vordringen Künstlicher Intelligenz in fast alle Bereiche unseres Lebens, die Dekarbonisierung mit dem wissenschaftlich seit den 1990er dokumentierten Klimawandel, der demografische Wandel mit einer erstmals in der Menschheitsgeschichte abnehmenden Wachstumsrate der Weltbevölkerung und die Deglobalisierung mit Fragmentierung und Polarisierung auf Ebene der Staatengemeinschaft. Aus den ersten vier genannten „Ds“ könne man auch viele Chancen machen. Nicht vorstellbar sei dies hingegen bei der Deglobalisierung. Entscheidend sei, dass die politischen Antworten auf diese Trends nicht dazu führen dürften, dass wir „Degrowth“ erlebten – in Form von weniger Wohlstand und weniger Freiheit. 

Trends am Prüfstand

Der Ökonom zeigte anschließend problematische Trends im Detail auf. So wird die Kluft zwischen den österreichischen Treibhausgas-Emissionszielen bis 2040 und dem Zielpfad immer größer. „Wir liegen 20% über dem Zielwert“, so Felbermayr. Dieses Delta habe Dinge wie die „Klimakleberei“ bewirkt. Mit Blick auf die Entwicklung der Globalisierung berichtete Felbermayr, dass seit 2009 12.000 zusätzliche Maßnahmen den Handel diskrimierend einschränken. Die Globalisierung sei zum Stillstand gekommen, der Globalisierungsindex deute nach unten. Felbermayr: „Für eine offene Volkswirtschaft wie Österreich ist das nicht gut.“

Bei den Staatsfinanzen zeigt die WIFO-Projektionsrechnung, wie sich Ausgaben und Einnahmen unter der „no-policy-Annahme“ langfristig entwickeln: die Einnahmen entwickeln sich flach weiter, aber die Ausgaben wachsen. Dies veranschauliche den Bedarf, Steuer- und Transfersystem zu ändern. Als kritische Entwicklung analysierte er die immer noch hohe Langzeitbeschäftigungslosigkeit. Die Schwierigkeit von Menschen, nicht am Arbeitsmarkt reüssieren können, habe oft technologische Gründe. Ebenfalls nicht weitergehen könne der Trend, wonach die durchschnittliche Wochenarbeitszeit seit den 1970er Jahren pro Woche von 40 auf unter 30 Stunden abgenommen hat. Dies sei nicht vom Gesetzgeber, sondern durch Teilzeit und Kollektivverträge ausgelöst worden. Weiteres Problem: Das Arbeitszeitvolumen stagniert trotz Bevölkerungswachstum. 2024 wird um ein Prozent weniger Arbeitszeit geleistet, während die Bevölkerung um drei Prozent gewachsen ist. Felbermayr: „Dieses Auseinanderklaffen macht Sorgen.“ Als letzten problematischen Trend nannte der Ökonom, dass Österreich pro Schüler sehr viel Geld ausgibt, während aber die PISA-Mathematik-Leistung der Schüler nur mittelmäßig ist. 

Mehr Verantwortung, mehr Anstrengung, mehr Europa

Als Lösungsvorschläge präsentierte der Direktor des WIFO-Instituts sieben Vorschläge. Erstens brauche Österreich mehr individuelle Verantwortung und weniger Vollkaskomentalität. „Es muss Selbstbehalte auf individueller Ebene geben. Das ist eine Frage der Haltungen“. Zweitens plädierte Felbermayr dafür, die Energiewende nicht planwirtschaftlich, sondern marktwirtschaftlich zu stemmen. Drittens erfordere Zukunftsgestaltung Investitionen, denn Zukunft könne man nicht durch „das Schreiben von Verordnungen und Verbotsschildern“ gestalten. Dies brauche private Investitionen. Ziel müsse ein europäischer Finanzmarkt – die Kapitalmarktunion – sein. Viertens müsse sich Anstrengung auszahlen, weshalb die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssten. Bei der Gegenfinanzierung müsse man über Tabus wie das Senken von Subventionen reden. Fünftens müsse die Lebenszeit, die wir arbeitend verbringen, größer werden. Dies erfordert längeres Arbeiten durch den Ausbau der Korridorpension und die Anpassung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung. Als sechsten Reformpunkt nannte Felbermayr beim NOTARION eine echte Schulreform, die eine Wiederbelebung des Leistungsprinzips und die Einführung einer Bildungspflicht umfassen müsse. Siebtens gelte das Prinzip „Europa, Europa, Europa“: Österreich repräsentiere ein Promille der Weltbevölkerung und vier Promille des Welt-BIP. Felbermayr: „Durch Europa können wir hebeln. Man muss sich aber auch in Europa frühzeitig einbringen.“ Es sei vieles im Umbruch, resümierte der Ökonom: „Damit wir am Ende nicht verlieren, wird es Anstrengungen durch viele Systeme hindurch brauchen.“

Diskussion: Mehr über Teilzeit-Nachteile informieren

In der nachfolgenden, von Hanna Kordik („Die Presse“) moderierten Diskussion äußerten sich Umfahrer und Felbermayr kritisch zur aktuellen Debatte um Vermögens- und Erbschaftssteuer. Diese würden auch gesellschaftlich nicht befriedend wirken, sagte Felbermayr mit Blick auf das Thema der gesellschaftlichen Polarisierung. Zur Förderung von Wohnungseigentum bei jungen Menschen plädierte der Präsident der Notariatskammer für die zielgerichtete Weiterentwicklung der 

Wohnbauförderung und für Steuerbegünstigungen bei Nebenkosten. Felbermayr sprach sich für die Abschaffung transaktionsbezogener Steuern nicht nur für den ersten Erwerb von Eigentum aus. Man dürfe allerdings Mieten nicht schlechter reden, als es sei. Dies sei auch für die Mobilität am Arbeitsmarkt zwischen West- und Ostösterreich wichtig. Die Pandemie habe die Vollkasko-Mentalität weiter verstärkt. Für die Vorsorge im Alter und für die Eigenkapitalversorgung von Unternehmen sei ein funktionierender Kapitalmarkt notwendig, unterstrich Umfahrer. WIFO-Chef Felbermayr forderte, Teile von Gehaltserhöhungen als Unternehmensbeteiligungen auszuzahlen und über die Nachteile von Teilzeitarbeit „krasser“ zu informieren. Notariatskammer-Präsident Umfahrer verwies auf den „asozialen Aspekt“ der Teilzeitarbeit: „Ich arbeite weniger, will aber das volle Service haben.“ Im österreichischen Steuersystem gebe es insgesamt mehr Anreize, weniger als mehr zu arbeiten, kritisierte Felbermayr. 

Referat
Univ.-Prof. Mag. Mag. Gabriel Felbermayr, PhD, Direktor Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO)

Diskussion
Univ.-Prof. Mag. Mag. Gabriel Felbermayr, PhD, Direktor Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO)
Dr. Michael Umfahrer, Präsident der Österreichischen Notariatskammer

Moderation: Mag. Hanna Kordik, Stv. Chefredakteurin, Ressortleiterin Economist, DIE PRESSE